© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Der Menschenhandel zwischen den Systemen
Eine erhellende Dissertation über den jahrzehntelangen DDR-Häftlingsfreikauf der Bundesrepublik
Detlef Kühn

Der Verkauf von Menschen durch das SED-Regime an den „Klassenfeind“ im Westen Deutschlands, vertreten durch die jeweiligen Bundesregierungen, bewegt nicht nur die Historiker, sondern immer noch die Freigekauften und ihre Angehörigen. Die Ursache für das anhaltende Interesse liegt daran, daß die Beteiligten an dem Geschäft seinerzeit in Ost und West verzweifelt, aber letztlich vergeblich versuchten, die Vorgänge geheimzuhalten. Außerdem sind auch heute, fast 25 Jahre nach dem Untergang der DDR, noch immer nicht alle diesbezüglich erhalten gebliebenen Akten für die Forschung zugänglich. Nicht zuletzt diese Geheimniskrämerei sorgt dafür, daß das Interesse nicht erlahmt und Spekulationen um Ausmaß und Folgen des Menschenhandels immer wieder neue Nahrung erhalten.

In dieses Dickicht schlägt Alexander Koch mit seiner Heidelberger Dissertation breite Schneisen. Er kann sich dabei auf Aktenbestände aus dem Bundesarchiv stützen, die vor allem für die sechziger Jahre aufschlußreich sind. Allerdings sind noch nicht alle Verschlußsachen freigegeben, und auch der Datenschutz behindert Forschungen zu Einzelfällen. Immerhin stehen die Akten der beteiligten kirchlichen Stellen zur Verfügung, ebenso wie veröffentlichte Erinnerungen der beteiligten Politiker, Beamten, Rechtsanwälte und Kirchenvertreter. Koch konnte auch zahlreiche nur am Rande beteiligte Zeitzeugen befragen.

Für die DDR finden sich beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR wichtige und aussagekräftige Akten. Sicherlich ist hier Material in der Endphase der DDR vernichtet worden. Zu berücksichtigen ist auch, daß im Osten wie auch in der Bundesrepublik oft in besonders heiklen Fällen bewußt auf eine ins Detail gehende Aktenführung verzichtet wurde.

Dennoch gelingen Koch in seiner gut lesbaren, informativen Studie einleuchtende Schlußfolgerungen. Zu begrüßen ist, daß er die einzelnen Aktionen jeweils in das politische Umfeld einordnet und besonders die Auswirkungen auf das innere Gefüge der DDR, auf die Stimmungslage von Anhängern und Gegnern des SED-Regimes untersucht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß der Freikauf – trotz der unbestreitbaren kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteile für die notorisch klamme Führung in Ost-Berlin – mit seinen langfristigen Auswirkungen auf Psyche und Ideologie der Menschen eher destabilisierend auf die DDR gewirkt hat. Er sieht darin eine Parallele zur Reisepolitik der Bundesrepublik, die ähnliche Auswirkungen gehabt habe – eine Folgerung, die der Rezensent aus eigner Erfahrung bestätigen kann.

Große Aufmerksamkeit widmet Koch den Verhandlungsführern, den Rechtsanwälten Wolfgang Vogel auf der DDR-Seite und Jürgen Stange im Westen. Beide wurden von den Bundesregierungen bezahlt. Vogel, der von Gesprächspartnern und Mandanten meist geschätzt wurde, war trotz Vollmacht des DDR-Generalstaatsanwalts eindeutig ein Mann des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), dem er ausführlich über seine Gespräche im Westen berichtete. Die Rolle von Stange, dem viele wegen seiner zu nachgiebigen Verhandlungsführung mißtrauten, wird von Koch untersucht. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Die DDR hatte aus ihrer Sicht gute Gründe, auf Stange als Verhandlungsführer des Westens zu bestehen und für den Fall seiner Abberufung mit Abbruch der Gespräche zu drohen. Dennoch wurde das Mandat Stanges erst 1982, nach dem Regierungswechsel, beendet. Paradox genug: Zwei Rechtsanwälte, die der Osten schätzte, wurden vom Westen großzügig honoriert. Insgesamt wurden knapp 32.000 Häftlinge und weitere 250.000 Familienangehörige für 3,4 Milliarden D-Mark freigekauft.

Bonner Ministerium erwies sich als inkompetent

Zwischen 1963 und 1989 trugen sieben Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969: innerdeutsche Beziehungen, BMB) politische Verantwortung für den Freikauf. Die längste Zeit – 13 Jahre, von 1969 bis 1982 – amtierte Egon Franke (SPD). Franke verdankte seine Berufung seiner Position als „Chef der Kanalarbeiter“, des rechten Flügels der SPD-Bundestagsfraktion. Diese Parteigruppierung war sowohl für Bundeskanzler Willy Brandt als auch Helmut Schmidt politisch überlebensnotwendig.

Franke, ein gelernter Tischler, war aber rückwirkend betrachtet mit der Führung des Ministeriums überfordert gewesen. Auch in der Auswahl tüchtiger Mitarbeiter war er nachlässig, zumal das Bundeskanzleramt ohnehin wichtige Kompetenzen an sich zog. Für den Freikauf blieb die Zuständigkeit beim BMB. Franke übertrug die Verantwortung auf seinen ebenso inkompetenten Ministerialdirektor Edgar Hirt und verließ sich völlig auf dessen Sachkunde und Integrität. Das führte zur Katastrophe.

Edgar Hirt wurde 1986 wegen Untreue und Betrug zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Sechs Millionen D-Mark, die er in seinen Besitz gebracht hatte, blieben verschwunden. Der mitangeklagte Egon Franke wurde freigesprochen, weil er von Hirts Machenschaften nichts gewußt habe. Über Franke, den alle, die ihn kannten, für eine „ehrliche Haut“ hielten, kursierte danach der traurige Witz, er sei der erste Bundesminister, der wegen erwiesener Dämlichkeit freigesprochen worden sei.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts

Alexander Koch: Der Häftlingsfreikauf. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte. Alitera Verlag, München 2014, gebunden, 453 Seiten, 39 Euro

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