© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Der Bruder als Henker
Berlin: Mit dem Mord an Hatun Sürücü begann vor zehn Jahren die Diskussion über Ehrenmorde
Fabian Schmidt-Ahmad

Es war nicht der erste und es war nicht der letzte Mord dieser Art, als vor nunmehr zehn Jahren, am 7. Februar 2005, Hatun Sürücü durch mehrere Kopfschüsse hingerichtet wurde. Von ihrem Bruder, an einer Bushaltestelle in Berlin. Weil sie die Familienehre verletzt habe. Weil sie so leben wollte wie eine Deutsche. „Wie eine Hure“, wie türkische Schüler in Neukölln damals das Verbrechen guthießen. Und doch bedeutete die Bluttat in Deutschland eine Zäsur.

Denn zum ersten Mal wurde bei diesem Mord nicht peinlich berührt weggeschaut. Es wurde auch nicht der kulturelle Hintergrund der Tat ausgeblendet. Und auch die Unfähigkeit der deutschen Justiz, mit dieser Form der Gewalt umzugehen, rückte ins Blickfeld. Der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, kritisierte sogar die Unverhältnismäßigkeit, mit der man Gewaltverbrechen mit fremdenfeindlichem Hintergrund beachte, hier aber übergehe.

Der Fall Sürücü steht daher für vieles. Komprimiert bildet er das ganze Elend der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik ab. Die Eltern, Kerem und Hanim Sürücü, stammten aus einem kurdischen Dorf. Eine unauffällige Familie. Fromm sind sie, verrichten die vorgeschriebene Zahl der Gebete. Obwohl fast alle ihrer neun Kinder in Deutschland geboren wurden, werden sie vor Gericht einen Dolmetscher brauchen. 1982 wird Hatun geboren. Es ist ihre erste Tochter.

Mit fünfzehn Jahren wird Hatun mit einem Cousin in der Türkei verheiratet. Die Ehe scheitert. Ebenso eine weitere Beziehung. Hatun legt ihr Kopftuch ab. Sie kehrt mit ihrem kleinen Sohn zu ihren Eltern zurück. Sie trägt wieder ein Kopftuch, legt es wieder ab. Sie ist auf der Suche. Doch was sie findet, hat immer weniger mit dem Leben der Sürücüs zu tun. Sie holt ihren Hauptschulabschluß nach. Sie beginnt eine Lehre als Elektrotechnikerin. Sie hat einen deutschen Freund.

Aus Sicht der Familie hat Hatun Schande über sie gebracht. Hatun sucht immer wieder den Kontakt, es wird ihr zum Verhängnis. Ihr jüngster Bruder Ayhan wird mit achtzehn Jahren zum Henker. Dreimal drückt er aus nächster Nähe ab. Seine älteren Brüder Alpaslan und Mutlu sollen die Mordwaffe besorgt und ihre Schwester in die Falle gelockt haben. Das Gericht kann nichts beweisen. Als der Prozeß neu aufgerollt wird, setzen sich die beiden in die Türkei ab.

Der Vater schenkt dem Mörder eine goldene Uhr

Vor Gericht wird die Familie ausfallend, beleidigt Richter und Staatsanwaltschaft. Gleichwohl volljährig, wird Ayhan zu einer Jugendstrafe verurteilt. Er ist der einzige, der verurteilt wird. Der Vater schenkt ihm eine goldene Uhr. In der Knasthierarchie steht er ganz weit oben, berichten Mithäftlinge. Nach neun Jahren und drei Monaten wird er in die Türkei abgeschoben. Die Pöbeleien gehen weiter. Über Facebook beschimpft Ayhan die Polizei, die Justiz, die Deutschen.

Zurück bleibt die Furcht. Nicht nur die Furcht der Mädchen, die in diesen Familien aufwachsen, sondern auch die Furcht der Deutschen. Die Furcht vor Auseinandersetzungen, die Furcht davor, seine Kultur machtvoll durchzusetzen. Vor allem aber auch die Furcht davor, mit einer Vorstellung konfrontiert zu werden, die man bisher erfolgreich verdrängt hat. Die Vorstellung nämlich von der Blutsreinheit. Eine Reinheit, die von der Sippe durch sexuelle Kontrolle gesichert werden muß.

Das steht natürlich als Antrieb hinter diesen Morden. Eine Frau, die sich dem Fremden, dem Blutsfremden, dem Minderwertigen hingibt, sie begeht Frevel am Blut ihrer Sippe. Ein Frevel, der wiederum nur durch Blut gesühnt werden darf. Wie soll dieses Funktionsprinzip archaischer Familienverbände von einer Gesellschaft nachvollzogen werden, die aus ideologischen Gründen gar nicht genug fremde Männer ins Land holen kann und jeden Kritiker mit „Rassismus, Rassismus“-Rufen niederbrüllt?

Da sie es nicht kann, da sie unfähig ist, diesen Trieb überhaupt als existent zu akzeptieren, wird sie weiterhin hilfloser Zuschauer bleiben. Auch zehn Jahre nach Hatuns Tod wird die Gesellschaft damit leben müssen. Erst vergangene Woche wurde die Leiche einer 19 Jahre alten Frau gefunden. Erwürgt wurde das Mädchen vom eigenen Vater, wie sich herausstellte. Die Leiche entsorgte die pakistanische Familie gemeinsam auf einer Raststätte bei Darmstadt. Sie wollte den Falschen heiraten. Gegen die Ehre.

Ehre, was für ein großes Wort. Vor Gericht brach im Mordfall Sürücü eine Zeugin in Tränen aus und sagte, Hatun habe ihr angedeutet, von ihrem Bruder vergewaltigt worden zu sein. Auch gegenüber anderen erwähnte Hatun das dunkle Familiengeheimnis. Daß sie überhaupt davon sprechen konnte, zeigte, wie weit sie sich von dem Gruppenbewußtsein ihrer Familie gelöst hatte. Und diese dadurch, ob sie wollte oder nicht, als Gruppe in Frage stellte. Das wurde ihr Verhängnis.

Foto: Einweihung einer Gedenktafel für Hatun Sürücü (2010): Sie hatte einen deutschen Freund

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