© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Über das Tricksen mit der Statistik
Prozent ist nicht gleich Prozent: Von Handwerksfehlern und Todsünden in der statistischen Wissenschaft
Sebastian Hennig

Als „aufklärerisches Projekt“ bezeichnen der Ökonom Thomas Bauer, der Statistiker Walter Krämer und der Psychologe Gerd Gigerenzer ihr gemeinsames Buch mit dem verheißungsvollen Untertitel „Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“. Schon vor Jahren erwachte bei den Autoren das Bedürfnis, den „Desinformationen den Unschuldschleier“ wegzuziehen. Seit 2012 veröffentlichen sie auf der Netzseite des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung eine „Unstatistik des Monats“.

Im Dezember 2014 wurde die Behauptung vorgeführt, der Berliner Flughafen sei zu 98 Prozent fertiggestellt. Diese Meldung erfolgte, ohne ein Verhältnis anzugeben, auf das dieser Wert bezogen ist. Derartiger numerischer Dadaismus ist ein Beispiel von vielen, an denen das Trio den Schindluder mit der Datenerhebung vorführt.
Zu Beginn aber werden erst einmal die Grundlagen der Mathematik aufgefrischt. So lassen sich bereits einige der einfachsten und doch häufigsten Mißverständnisse aufklären. Die suggestive Frage lautet: „Wer versteht Prozente?“ Ein Beispiel aus Mexiko zeigt ausgewachsene Prozent-Gaukelei. Da die Mittel zum Ausbau einer vierspurigen Autostraße fehlten, wurden einfach sechs Spuren auf die Fahrbahn gepinselt. Ohne Baumaßnahmen stieg damit die Kapazität um fünfzig Prozent. Da sich Unfälle häuften, mußte der vorherige Zustand bald wiederhergestellt werden, also eine Verringerung um 33 Prozent. Die Maßnahmen konnten auf diese Weise als eine Erhöhung der Kapazität um 17 Prozent gefeiert werden. So etwas wirkt vergleichsweise erheiternd.

Voraussetzung der guten Laune ist, daß der Nonsens entlarvt wird. Darin besteht das Hauptverdienst dieser Publikation. Einige besonders fett gemästete Statistik-Enten werden hier tranchiert. Die Skepsis des Lesers steigt mit jedem Durchgang. Die Analysen des Buches zeigen, daß Statistiken oft wie Vexierbilder wirken. Es nutzt wenig, das Prinzip verstanden zu haben, wenn die Begierde nach einem gefälligen Ergebnis die Wahrnehmung auf Irrwege lockt. Vor dem Auge ordnet sich alles in die vorab vermuteten Zusammenhänge.

Andererseits lassen sich Ergebnisse auch nach Fragestellungen ordnen. Die Autoren nennen das den „Meisterschützeneffekt“. Es wird erst zufällig grob in eine Richtung gefeuert, um dann erst die Zielscheibe über jene Stelle zu zeichnen, auf der die meisten Einschußlöcher zu erkennen sind.
Unterteilt werden die Fehlleistungen in „kleinere handwerkliche Fehler und grobe statistische Todsünden“. Letztere sind oft von der Absicht geleitet, eine erwünschte Stimmung zu erzeugen oder zu verstärken.

Die Vermengung von Wissenschaftsjargon mit Boulevard-Journalismus stiftet Desinformation, die oft mittels prominenter Gesichter unters leichtgläubige Volk gebracht wird. Besonders dramatisch ist das bei den massenhaften Untersuchungen auf Brustkrebs. Hier wird Früherkennung als Vorsorge verkauft. Der geschürten Dauerangst steht ein äußerst geringer Verhütungserfolg gegenüber. Das ganze Verfahren nützt nur den Kampagnenbetreibern. „Am aufgeklärtesten waren die Russinnen – nicht weil sie mehr Information erhalten, sondern weniger irreführende Information. Frauen und Frauenverbände sollten endlich die Pink Ribbons zerreißen und ehrliche Information verlangen.“ 


Wenn der ungenaue Bezug einer Information zudem noch auf eine leicht erregbare Vorstellungskraft trifft, entstehen Gefahrenbilder, die keinen Bezug mehr zur Wirklichkeit aufweisen. Wir erfahren Erhellendes über die Angaben zu Kriminalität, Armut, Arbeitslosigkeit oder krankmachende Lebensmittel. So überrascht die Erkenntnis, daß der Anteil von natürlicherweise in der Nahrung enthaltenen Schadstoffen bei 99,9 Prozent liegt – nimmt man die falsche Dosierung.

Relative Risiken wachsen sich schnell zur absoluten Bedrohung aus. Hinter der haarsträubenden Neuigkeit, daß sich die Anzahl der tödlichen Unfälle mit Haien binnen Jahresfrist verdoppelte, verbergen sich letztlich nicht mehr als zwölf Opfer weltweit. In der Kriminalstatistik von München und Düsseldorf werden Durchreisende nicht erfaßt. In Frankfurt allerdings schon, wodurch die Stadt sogleich zum Zentrum des Verbrechens in Deutschland wird. In Vatikanstadt gibt es deutlich mehr Zivil- und Strafverfahren als Einwohner, von denen allerdings kaum einer zum Gegenstand einer Untersuchung wird. Die Übertreter rekrutieren sich fast ausschließlich aus den Millionen Besuchern, die jedes Jahr einreisen. 


Leute vom Fach erörtern hier dessen Misere ohne reißerische Überspitzungen. Das Buch ist nicht nur aufklärerisch, sondern zudem noch in gutem Deutsch verfaßt. Denn Walter Krämer ist nicht nur Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Er ist auch der Gründer und Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache. Auf soviel Entwirrung folgt ein Epilog mit zehn Ratschlägen für die richtige Wahrnehmung von Statistiken. Ein Glossar informiert über die Fachbegriffe von „Absoluter Risikoreduktion“ bis „Vorlaufzeit-Bias“.

www.unstatistik.de

Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer, Walter Krämer: Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, broschiert, 211 Seiten, Abbildungen, 16,99 Euro

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