© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Ein verlängerter Arm fürs Ich
Der Selfie-Stab als Erfindung ganz für unsere Zeit: Die ultimative Prothese für Nabelbeschauer
Bernd Rademacher

Wie Narziß sein Spiegelbild im Wasser zu betrachten oder sich von Malern in Öl porträtieren zu lassen, reicht den Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Der Hipster von heute knipst ein „Selfie“ und verbreitet es im Internet.

Das Phänomen kreist rund um den Globus: Landwirte schießen „Felfies“ (Farmer-Selfies) mit ihrem Viehzeug, Betrunkene fotografieren ihre Blessuren von nächtlichen Stürzen (Drunk-Selfies), und selbst die Barbaren des Islamischen Staates posieren in martialischen Posen mit den Beweisen ihrer Mordtaten.

Doch sie alle haben dasselbe Problem: Wie sehr man sich auch streckt, der Arm ist nicht lang genug, um nicht im Bild zu sein. Doch wo homo sapiens auf ein technisches Problem stößt, erfindet er auch eine Lösung.

Der Narzißten-Stick als Innovation des Jahres

Das neue Utensil löst den Spazierstock früherer Zeiten ab: der „Selfie-Stick“ oder deutsch: Selfie-Stab, ohne den der kommunikationsaffine Großstädter nicht mehr aus dem Haus geht. Dabei handelt es sich im Prinzip um einen simplen Teleskop-Stock, allerdings mit kabelloser Blauzahn-Schnittstelle.

Vor allem für junge Youtuber wie Simon Unge ist das Hilfsmittel praktisch. Die Internet-Stars, deren YT-Kanäle Hunderttausende Zuschauer haben, filmen ihren eigenen Alltag. Das neue Fernsehprogramm zum Selbermachen.

Das Time-Magazin wählte die Prothese gar unter die 25 besten Innovationen des vergangenen Jahres. Dabei ist der Selfie-Stick gar keine neue Erfindung. Der Kanadier Wayne Fromm will die Armverlängerung schon im Jahr 2005 erdacht haben. Vorsintflutliche Selbstporträt-Stangen sind allerdings schon um 1930 nachgewiesen.

Fromm war mit seiner Tochter am Mekka des modernen Tourismus, in Venedig. Aus Mißtrauen wollte er fremden Mädchen nicht gerne seinen Fotoapparat überlassen, um ein Bild von sich und seiner Filia zu knipsen. Erklärlich bei dem Ruf italienischer Langfinger.

Wieder daheim ersann er einen Teleskophalter, den er „Quik Pod“ taufte. Jahrelang putzte er Klinken, um seine Erfindung zu vermarkten. Ohne Erfolg. Den heimsten nun jene ein, die den nicht geschützten Prototyp einfach selbst produzierten. Heute ist ein Bluetooth-Selfiestick ab 12,99 Euro im Elektronikmarkt erhältlich.

Aber Vorsicht! Der Gebrauch ist nicht immer und überall ohne Risiko. In Südkorea können Touristen für den Gebrauch in den Knast wandern. Grund: Die Funkverbindung zur Kamera ist nicht zugelassen! Und auch in europäischen Fußballstadien wird der Selfiestock als potentielle Waffe angesehen.

Inzwischen wird der Fotoknüppel in den Online-Netzwerken auch „Narziß-Stick“ genannt, womit wir wieder am Anfang des Artikels wären. Vielleicht wächst den modernen iMenschen ja in einigen Generationen durch genetische Mutation von selbst ein verlängerter Selfie-Arm. Inspektor Gadget (Schlag’ nach bei Google) läßt grüßen ...

Foto: New York, Rio, Tokio – der „Selfie-Stick“ (r. o.) ist schnell montiert: In der Welt unterwegs, blickt der moderne „iMensch“ auf sich selbst

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