© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Der Flaneur
Ein Dackelblick erster Klasse
Josef Gottfried

Dieser Zug erreicht in wenigen Minuten Köln Hauptbahnhof. Vielen Dank für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn.“ Der Satz ist noch nicht verklungen, schon wuchte ich meinen Koffer aus der Gepäckablage, peinlich darauf bedacht, keinem Mitreisenden den Kopf einzuschlagen. Dann zerre ich das Stück wenig elegant durch den Gang. Hätte ich doch nie über Rollkoffer gespottet!

So stehe ich nun an der Zugtür und habe Zeit, Kölner Kulissen an mir vorüberziehen zu lassen und einen Blick in die erste Klasse zu werfen, deren Sitze sich im nächsten Wagen befinden.

Mit welchem Mut und Verstand seine muskulösen Vorfahren im Dachsbau jagten!

Ein außerordentlich elegantes Pärchen beeindruckt mich, beide schon sehr alt und runzlig, aber (auf eine bis an Extrovertiertheit grenzende Art und Weise) hervorragend angezogen. Sie sitzen mit dem Rücken zu mir, neidisch sehnend taxiere ich den Preis seiner Schuhe und ihrer Uhr. Ihre Uhr neben dem goldenen Armreif an der faltigen, adrigen Hand, die das seidige Fell eines Dackels liebkost, der in dem geflochtenen Korb neben ihr ebenfalls auf Reisen ist.

Sie ist zart zu ihm, und er schaut mit großen Augen zu ihr auf, bis er meinen Blick bemerkt – und erwidert. Nicht etwa pampig, warum ich wohl so neugierig guckte, und ob ich dies denn nicht gefälligst unterlassen wolle! Nein, er wickelt mich genauso ein wie sie. Ein Dackelblick. Ich würde gerne mal, nur so aus Neugier, und ein bißchen auch, weil ich berührt bin, mit meinen Händen durch sein wunderbares Fell fahren.

Dabei irritiert mich aber der Gedanke, daß er ja eigentlich einer stolzen Rasse entstammt. Mit welchem Mut und mit welchem Verstand seine muskulösen, ausdauernden Vorfahren im Dachsbau jagten! Schon mischt sich Wehmut in mein freies Assoziieren, und irrationales Mitleid flutet meinen Bauch mit flauem Gefühl. Als ich aussteigen kann, nicke ich ihm meinen stillen Abschied zu: Mach’s gut. Du Opfer. werden die unbehandelten Zinn- oder Plastikfiguren stundenlang vor ihrem ersten Auftritt auf dem Spieltisch bemalt. Dabei werden auf den meist 28 bis 30 Millimeter großen Figuren noch die mikroskopisch kleinsten Details wie Augäpfel oder Bartschatten hervorgehoben. Die Schlachtfelder sind oftmals über zwei mal zwei Meter große Dioramen mit selbstgebauten Wäldern, Seen, Burgen oder ganzen Städten.

Die Produktpalette der unzähligen Spieleschmieden ist Legion und bietet für jeden Geschmack etwas. Der Anfänger steht vor der Qual der Wahl und kann sich zwischen Spielsystemen in der historischen Antike, Kreuzrittern und Samurai, Wehrmacht gegen Rote Armee sowie zahlreichen Fantasy- und Science-fiction-Welten entscheiden.

Der Branchenprimus ist das Fantasy-Tabletop „Warhammer“ des englischen Spieleherstellers Games Workshop, dessen Firmenjubiläum sich 2015 zum 40. Mal jährt. Seit 1983 kämpfen in der magischen Warhammer-Welt diverse Menschenvölker, Elfen und Zwerge einen tragischen Kampf gegen die korrumpierenden Kräfte des Chaos. Mit einem Umsatz von etwa 200 Millionen Euro ist der in Nottingham angesiedelte Tabletop-Entwickler längst mehr als eine kleine Nischenfirma für Nerds. Daß das mittlerweile börsennotierte Unternehmen eben auch nach einem ordentlichen Profit strebt und regelmäßig an der Preisspirale für neue Figuren dreht, die schon fertig ausgestaltet sind, stößt dem harten Kern der idealistischen Spielerschaft schon seit Jahren übel auf und sorgt für manche Verstimmung. Dennoch sind die limitierten Angebote der Engländer meist innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Games Workshop und seine Kunden sind so durch eine innige Haßliebe verbunden, die vielleicht gerade deswegen noch für ein langes Bestehen der Firma sorgen wird.

Der Urvater des Tabletops ist das preußische „Taktische Kriegsspiel“. Dort entwickelte der Hofkriegsrat Georg Leopold von Reiswitz als Reaktion auf die Niederlage des preußischen Heeres gegen Napoleon ein Simulationsspiel, um das strategische und taktische Denkvermögen der Offiziere zu steigern. Diese waren als Befehlshaber der Truppen eingesetzt und mußten in verschiedenen komplexen Szenarien ihre Kommandos geben. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. und sein Sohn Wilhelm I. sollen begeisterte Spieler gewesen sein. Ihr Spieltisch, eine Kommode genannt taktischer Kriegsspielapparat, befindet sich noch heute im Erdgeschoß von Schloß Charlottenburg.

Foto: Warhammer-Figürchen im Kampfgetümmel auf einem Spieltisch, dem „Tabletop“: Für die Turniere finden Frauen eher weniger Interesse

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen