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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/15 / 13. Februar 2015

„Ich bedauere die Zerstörung aufrichtig“
Dresden war 1945 ein ziviles Ziel, seine Vernichtung folglich illegitim. Falsch, widerspricht der britische Historiker Frederick Taylor. Dies sei ein Mythos und der Angriff auf die Stadt gerechtfertigt – allerdings kaum so, wie er schließlich durchgeführt wurde
Moritz Schwarz

Herr Taylor, inwiefern war Dresden 1945 ein legitimes militärisches Ziel?

Taylor: Daß Dresden eine Stadt ohne industrielle und militärische Bedeutung gewesen sei, ist Legende. Es beherbergte Fabriken und Armee-Einrichtungen.

Aber waren diese Einrichtungen denn auch tatsächlich das Ziel der Angriffe?

Taylor: Nein, letztendlich galten sie nicht ihnen, sondern sollten Chaos im Rücken der Ostfront verursachen.

Ziel war also nicht das militärisch-industrielle, sondern das zivile Dresden?

Taylor: Persönlich wünschte ich, wir hätten die Stadt nicht so wahllos bombardiert. Ich habe bereits früher zum Ausdruck gebracht, daß ich dies für einen ruchlosen Akt von Kriegsführung halte, der sich nur schwer moralisch rechtfertigen läßt. Der aber auch eine – furchtbare – militärische Logik hatte.

In Ihrem Buch „Dresden, 13. Februar 1945“ sagen Sie: Im von der deutschen Luftwaffe 1940 zerstörten englischen Coventry gab es Industrie und in Dresden gab es Industrie. Ergo ist beider Städte Vernichtung gleichermaßen legitim beziehungsweise verbrecherisch. Ist das Ihre Position?

Taylor: Da haben Sie mich mißverstanden. Coventry hatte eine der besterhaltenen mittelalterlichen Altstädte in England. Es war aber ebenso ein wichtiges industrielles Zentrum und somit ein legitimes Ziel. Gleichwohl waren die Mittel, die die deutsche Luftwaffe gegen die Stadt einsetzte, ebenfalls ruchlos. Die überwiegende Zahl der Opfer waren Zivilisten, darunter viele Frauen, Kinder und Alte. Dagegen fiel nur eine Handvoll Soldaten – und die meisten von ihnen hatten dienstfrei und starben an Orten wie Kinos. Bomben mit Verzögerungszünder und Luftminen an Fallschirmen – mit denen man gar nicht gezielt treffen kann – wurden über zivilen Stadtteilen abgeworfen. Ebenso große Mengen von Brandbomben über dem historischen Stadtzentrum. Ich bedaure die Zerstörung Dresdens aufrichtig und meine: Seine historische und architektonische Bedeutung hätte es vor der Zerstörung bewahren sollen, zumindest in seiner historischen Mitte – trotz der Fabriken, Armee- und Transporteinrichtungen in der Stadt. Daß man sich davon nicht hindern ließ, zeigt den Grad der Verrohung, den der Krieg 1945 erreicht hatte.

Bei aller Ruchlosigkeit zielten aber die deutschen Luftangriffe – mit Ausnahme der späteren Baedecker- und der V-Waffen-Attacken – auf militärisch-industrielle Ziele und nicht per se nur noch auf die Zivilbevölkerung, wie beim „Morale Bombing“, also den britischen Flächenangriffen.

Taylor: Ich habe allgemein ein moralisches Problem mit Flächenangriffen auf Städte. Diese Kriegsführung, einzigartig bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, ist schon an sich moralisch zweifelhaft. Darüber zu debattieren, ob dieser oder jener Angriff, ob diese oder jene Luftwaffe „industrielle“ oder „militärische“ Ziele anvisierte, erscheint mir fragwürdig. Zurück zu Coventry: Nach meinem Wissen gibt es keinen Zweifel daran, daß der deutsche Angriff, obwohl er sich gegen militär-industrielle Ziele richtete, ebenso auf die Arbeitskräfte zielte, gegen deren Wohnhäuser, ihre Moral und gegen Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen der Stadt. Die Zahl der getöteten Zivilisten und zerstörten zivilen Gebäude war sehr groß. Das gleiche gilt für London und andere Städte. Die deutschen Angriffe waren legitim, soweit das im Rahmen des Luftkrieges möglich ist, aber so zu tun, als hätten sie nichts mit „Morale Bombing“, also mit Flächenangriffen, zu tun, ist nicht zutreffend. Das gleiche gilt weitgehend für britische Angriffe auf deutsche Städte, mindestens bis 1943, als das „Morale Bombing“ eine wachsende – finstere – Rolle in der alliierten Luftkriegsstrategie zu spielen begann. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die alliierte Luftkriegsführung verselbstständigt: Die gewaltige Bomberflotte, die nun existierte, wurde zunehmend als grobes Mittel ebenso gegen die Moral des Feindes wie gegen dessen Industrie und Armee eingesetzt.

Ihre Landsleute Anthony Grayling und Richard Overy halten die These, Großbritannien habe nur massiv vergolten, was Deutschland zuvor begonnen habe, für falsch. Warum kommen diese offenbar zu einem anderen Resultat als Sie?

Taylor: Professor Grayling, den ich persönlich kenne und respektiere, ist kein Historiker, sondern Philosoph. Was Professor Overy angeht, der ein echter Experte ist, haben Sie die Nuance seiner Argumente offenbar nicht verstanden. Er hat recht, daß die Alliierten, besonders die Royal Air Force, im Laufe die Krieges die Unterscheidung zwischen strikt industriellen oder militärischen und zivilen Zielen aufgaben, so daß die Angriffe oft unterschiedslos ausgeführt wurden. Das steht außer Frage und ist ein schwarzer Fleck auf der Moral der Royal Air Force. Allerdings kann es keinen Zweifel geben, daß die Royal Air Force technisch sehr viel von den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf England gelernt hat, nämlich wie man ganze Städte attackiert und ausschaltet. Besonders gilt das für Coventry, das das erste und beste Beispiel für einen massiven Bombenangriff neuen Typs war, den die deutsche Luftwaffe eingeführt hat. Die Briten griffen dieses Modell auf und vervollkommneten es. In diesem Sinne würde ich sagen, daß der Schüler – Großbritannien – den Meister – die deutsche Luftwaffe – überflügelte und dessen Lehren noch ruchloser, unterschiedsloser und in noch größerem Maßstab zur Anwendung brachte.

Pardon, aber ist der springende Punkt nicht der britische Wechsel zur Strategie des „Morale Bombing“ ab 1942/43: Von da an ging es primär nicht mehr um die Vernichtung kriegsrelevanter Einrichtungen, sondern nur noch darum, möglichst viele Zivilisten umzubringen (um die Moral des Gegners zu brechen). Dazu Ihr Kollege Max Hastings: „Ich bin durchaus der Auffassung, daß die alliierten Bombenangriffe auf Deutschland ein ‘Kriegsverbrechen’ gemäß den Standards des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg darstellen.“ Einen solchen Strategiewechsel gab es – wie gesagt mit Ausnahme der Baedecker- und V-Waffen-Angriffe – auf deutscher Seite nicht. Auch wenn Hitler und Goebbels nachweislich davon geträumt haben.

Taylor: Mir scheint, im Grunde fragen Sie mich immer wieder die gleich Frage. Sir Hastings hat eine sehr gute Arbeit über das britische Bomber Command erstellt – vor 35 Jahren – und hat eine Meinung über die Nürnberger Prozesse, zu der er höchst berechtigt ist. Allerdings ist er ein Journalist und kein Experte für Völkerrecht. Es gibt keinen Zweifel, daß die alliierte Luftkriegsstrategie nach 1942 wechselte und zwar moralisch zum Schlechten. Von deutscher Seite aus gab es ab diesem Zeitpunkt keine ernsthafte Luftoffensive mehr gegen Großbritannien – mit Ausnahme der von Ihnen erwähnten Baedecker-Raids, die soweit ich weiß als Vergeltungsangriffe betrachtet wurden, und der V-Waffen-Angriffe, die in der Tat völlig wahllos waren. Deutschland hatte keine nennenswerten schweren Bomber und seine Luftwaffe war vollauf in Rußland beschäftigt, wo sie auf keinen Fall moralischen oder rechtlichen Gesichtspunkten unterworfen wurde.

Anthony Grayling meint, Maßstab zur Bewertung der britischen Kriegsführung könnten nicht die Handlungen des nationalsozialistischen Deutschlands sein, sondern der moralische Anspruch, mit dem England in den Krieg eingetreten ist.

Taylor: Es ist keine Frage, daß die Alliierten viele der Prinzipien aufgaben, unter denen sie angeblich den Krieg als Antwort auf die deutsche Aggression begonnen haben, wie Professor Grayling zu Recht feststellt. Da wäre zunächst das Bündnis mit der brutalen kommunistischen Diktatur nach dem Juni 1941. Obwohl in der Praxis notwendig, bedeutete es, jeden Anspruch auf moralische Reinheit aufzugeben. Was Professor Grayling, in seiner hochgeistigen Art, schwer verständlich findet, ist, daß dies insgesamt kein ungewöhnliches oder überraschendes Phänomen ist – sobald aus einem Krieg für die Gerechtigkeit ein Krieg ums nationale Überleben wird. Das ist der Punkt, wo ich mit ihm nicht einig bin. Es erscheint mir unrealistisch, die Greueltaten der Nazis als gänzlich irrelevant für die Diskussion zu betrachten. Spätestens 1942 wurde klar, daß ein Sieg der Alliierten und die Rettung der versklavten Völker Europas dringende Notwendigkeiten waren, die fast jeden Preis rechtfertigten – ob nun von den Alliierten gezahlt oder den Ländern der Achse aufgezwungen. So sahen zu dieser Zeit die meisten in England und Amerika die Situation. Unsere Luftoffensive muß in diesem Kontext gesehen werden.

Als zentral in der Debatte hat sich in puncto Dresden die Frage nach der Opferzahl herauskristallisiert. Sie gehen in Ihrem Buch von 25.000 bis 40.000 Opfern aus. Wieso können Sie höhere Zahlen ausschließen? Wie zuverlässig kann die Geschichtswissenschaft die Opferzahl rekonstruieren?

Taylor: Es ist immer schwierig, „sicher“ zu sein. Mein Buch ist nun mehr als zehn Jahre alt. Inzwischen wurden neue Dokumente ausgewertet. Jüngste Forschungen setzen die Zahl sogar niedriger an, nämlich zwischen 18.000 und 25.000. Instinktmäßig tendiere ich zu einer etwas höheren Zahl, aber das ist eine bloße Ahnung. Es ist allerdings die Zahl von Hunderttausenden Opfern, die ausgeschlossen werden kann.

Es soll eine unbekannte Zahl an Flüchtlingen in der Stadt gewesen sein. Viele Opfer verbrannten völlig oder verschwanden in den Trümmern. Wie konnte ihre Zahl nachträglich so genau erfaßt werden?

Taylor: Niemand nimmt für sich in Anspruch, die Zahl der Flüchtlinge, die damals in der Stadt waren, berechnen zu können. Was getan wurde, war die Zahl der Toten zu errechnen. Was wir wissen, etwa aus Unterlagen und aus Zeitzeugenberichten, ist, daß man Flüchtlinge davon abzubringen versuchte, nach Dresden zu gehen. Die, die dennoch kamen, wurden so rasch wie möglich in die Außenbezirke geleitet. Folglich war die Flüchtlingszahl im Stadtzentrum in der Nacht des Angriffs wohl sehr viel geringer, als viele denken. Gleichwohl verursacht dieser Aspekt ein Element der Unsicherheit. Echte Präzision ist in der Frage wohl unmöglich. Man muß, um diese unumgehbare mangelnde Exaktheit auszugleichen, zubilligen, daß die tatsächliche Opferzahl in beide Richtungen um ein paar tausend abweichen kann. So neige ich zu einer leicht höheren Schätzung der Zahl.

Die Dresdner Kommission, die 2006 die Zahl festlegte, trat mit dem erklärten Ziel an, Rechtsextremisten, die übertriebene Zahlen verbreiteten, damit das Wasser abzugraben. Auch wenn das Vorgehen der Kommission wissenschaftlich korrekt gewesen sein mag, hat man damit nicht von Beginn an den Verdacht genährt, hier ginge es um eine „bestellte Zahl“, folglich das Mißtrauen geradezu angefacht?

Taylor: Ich kenne etliche der beteiligten Historiker und betrachte sie als Ehrenmänner. Es ist beleidigend und falsch, ihnen zu unterstellen, sie seien berufen worden, um eine „bestellte Zahl“ zu liefern. Der Anwurf ist absurd, aber ich bin sicher, daß all das für die Verschwörungstheoretiker keine Rolle spielen wird. Ich bin überrascht und beunruhigt, daß Sie diese Vorwürfe wiederholen.

In Ihrem Buch stellen Sie dar, daß es keine anschließenden Tieffliegerangriffe auf die überlebenden Dresdner gegeben haben kann. Aber warum eigentlich nicht? Schließlich hat es solche Angriffe auf Zivilisten doch in ganz Deutschland gegeben.

Taylor: In der Tat waren Tieffliegerangriffe auf Zivilisten nichts Ungewöhnliches, sowohl von alliierter wie deutscher Seite. Der Punkt in Dresden ist: Es gibt von keiner Seite Dokumente, die das belegen. Dagegen belegen US-Dokumente, daß die die Bomber begleitenden Jagdflieger ausdrücklich den Befehl erhielten, auf solche Angriffe zu verzichten, um Sprit zu sparen, da es sich um einen Langstreckeneinsatz handelte. Zudem gab es in den ersten Jahren keine Berichte über solche Angriffe, weder in Briefen noch in militärischen Berichten oder der Nazi-Presse, die stets bestrebt war, alliierten Piloten Barbarei nachzuweisen. Erst in den fünfziger Jahren tauchten sie im Sensationsbericht eines westdeutschen Journalisten auf, der sie über einem anderen Stadtteil stattfinden ließ. Vor allem aber hat nie ein US-Pilot berichtet, daß er so einen Angriff geflogen sei. Wenn Sie nun glauben: „Natürlich, weil es ihnen peinlich war!“, dann kennen Sie die Amerikaner nicht. Einige wären stolz darauf gewesen und hätten das der Welt auch mitgeteilt.

Wie ist dann zu erklären, daß sich viele Überlebende an diese Angriffe erinnern?

Taylor: Das ist der Punkt, der das Ganze so problematisch macht. Gut möglich, daß Luftkämpfe in niedriger Höhe als Tieffliegerangriff mißverstanden wurden. Ein Zeitzeuge übrigens, ein Mann von unzweifelhafter Ehre, berichtete mir, er sei am Tag nach dem Angriff auf den Dresdner Elbwiesen gewesen, ohne dort Leichen gesehen zu haben. Dabei müssen dort damals Hunderte, oder wie manche meinen, Tausende Körper gelegen haben. Es wurde viel dazu geforscht, wie Erinnerungen entstehen. Konsens ist heute, daß sie, besonders kollektive Erinnerungen, nichts Reines und Dauerhaftes, sondern etwas Verformbares sind, dem Wandel unterworfen und abhängig von gegenseitiger Berichterstattung. Im Fall Coventry gibt es Überlebende, die von deutschen Bombern berichten, die sie mit Maschinengewehren beschossen hätten. Wir wissen aber, daß das nicht der Fall gewesen sein kann.

Sie stellen den Bombenkrieg als militärisch sinnvoll dar. Kritiker wenden ein, er hat 55.000 britische Soldaten das Leben und Unsummen Geld gekostet. Der Einsatz dieser Mittel an anderer Stelle hätte weit mehr gebracht. Der Luftkrieg sei kontraproduktiv gewesen und habe den Krieg verlängert.

Taylor: Es mag sein, daß ein anderer Einsatz dieser Ressourcen mehr gebracht hätte. Die Bombardierung brachte allerdings gewisse Erfolge. Was nicht gelang, war, die Deutschen gegen die Nazis aufzubringen, sie zeigte aber, daß der Nazi-Staat schwach war und seine Bürger nicht schützen konnte. Alles in allem spielte die Luftoffensive eine signifikante Rolle für den alliierten Sieg, wenn vielleicht auch nicht die entscheidende, die man sich erhofft hatte. Daß sie den Krieg verlängert hat, glaube ich nicht. Ob sie ihn tatsächlich verkürzt hat – das ist diskussionswürdig.

 

Frederick Taylor, der britische Historiker, Jahrgang 1947, gilt seit seinem Buch „Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945“ als einer der profiliertesten Kenner der Geschichte Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Taylor studierte in Oxford, bereiste mehrfach Deutschland, forschte über die deutsche extreme Rechte vor 1918 und übersetzte die Tagebücher Joseph Goebbels’ der Jahre 1939 bis 1941 ins Englische. 2004 erschien seine Dresden-Studie, 2009 sein Buch „Die Mauer“ über die deutsch-deutsche Teilung, 2011 „Zwischen Krieg und Frieden“, das die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands ab 1945 untersucht. Sein jüngstes Buch „Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas“ (2013) nannte die Zeit eine „Tiefenbohrung in der deutschen Seele“. Eine ausführliche Fassung dieses Interviews lesen Sie unter www.jungefreiheit.de.

www.fredericktaylorhistory.com

Foto: Dresden nach dem Untergang am 13. Februar 1945: „Ich halte dies für einen ruchlosen Akt von Kriegsführung, der sich nur schwer moralisch rechtfertigen läßt. Der aber auch eine – furchtbare – militärische Logik hatte.“

 

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