Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/15 / 13. Februar 2015

Zur Lage der Geschichtswissenschaft
Kumpane des bloß Korrekten
Günter Scholdt

Im Anschluß an einen Vortrag hat mich mal ein Abiturient gefragt, ob ich ihm empfehlen könne, Geschichte zu studieren. Ich wußte nicht, welche Glücks­erwartungen er an sein Leben stellt, und antwortete etwas schroff: Zuraten könne ich bedenkenlos allen intellektuell Anspruchslosen, deren Befangenheit im Zeitgeist ihnen Konflikte erspart. Ebenso zynischen Opportunisten, denen sich im heutigen Deutschland zahlreiche lukrative, sogar institutionelle Berufschancen bieten, sowie geborenen Märtyrern oder Masochisten der Wahrheitsfindung, die fraglos auf ihre Kosten kämen. Die verbleibende Minderheit aber litte, sofern sie sich auch zeitgeschichtlich betätige, in einer vielfach verkommenen akademischen Disziplin wie der sprichwörtliche Hund.

Was veranlaßte mich zu solchen wenig ermunternden Sarkasmen? Jahrzehntelange Beobachtungen in einem Umfeld, in dem Verstöße gegen den Mainstream bei neuralgischen deutschen Themen in aller Regel geahndet werden. Zu den persönlichen Erfahrungen gehören publizistische Verdächtigungen, Internet-Attacken bzw. -Sudeleien und neuerdings zunehmend Praktiken, bei denen Gegner schlicht darauf abzielen, daß ein Unbotmäßiger überhaupt zu Wort kommt.

Das erlebte ich zuletzt in Berlin bei einer Tagung des Instituts für Staatspolitik zum Ersten Weltkrieg. Der Freiburger Emeritus Hans Fenske referierte über die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen, Karlheinz Weißmann über Feindbilder vom „häßlichen Deutschen“, Erik Lehnert über die „Ideen von 1914“, ich selbst über die Wandlung der „Burgfrieden-Idee“. Kurz zuvor mußten wir in einen kleineren Saal ausweichen und Dutzende weiterer Anmeldungen stornieren. Die ursprünglichen Vermieter hatten aus Angst vor durch Farbbeutel eingeleitete Antifa-Drohungen, in Verbindung mit dem wohlmeinend-erpresserischen Rat des Charlottenburger Bezirksamts, kalte Füße bekommen. Zu dieser delikaten halbseidenen Koalition von politisch Etablierten mit dem gewaltbereiten Mob paßt, daß die Berliner Technische Universität ihre Räume der Antifa für einen Kongreß zur Verfügung stellte, um weitere Meinungsverhinderungsstrategien auszubrüten.

Neigten wir zu Größenwahn, hätten wir uns, wohlig gruselnd, an der Vorstellung berauscht, welche Bedeutung plötzlich sogar Vorträge zur Zeit vor hundert Jahren erlangen, wo doch sonst Geschichte immer weniger interessiert. Humorlos betrachtet, gruselt es einem vor einem Staat, der solches fördert und ein als Heilmittel gegen Rechtsextremismus gefeiertes Modell so uferlos mißbrauchen läßt, um die Deutungsherrschaft zu bewahren.

Letzten Oktober konnte ich ähnliches in Schweinfurt beobachten, wo einschlägige gesellschaftliche Skandal-Gruppen einen Wirbel veranstalteten, um Stefan Scheil das dortige Rathaus zur Verleihung des Kronauer-Preises zu sperren. Man wolle verhindern, hieß es in der klassischen Diktion repressiver Toleranz, daß die Stadt „rechtes Denken salonfähig“ mache. Das Ganze wurde „wissenschaftlich“ unterfüttert durch ein Vorab-Verdikt von Wolfgang Benz, der Scheil, wie sich herausstellte, offenbar nicht gelesen hatte.

Nun gehört dergleichen Denunziantenstadel gegenüber Andersdenkenden hierzulande schon lange zur täglichen Einschüchterungsfolklore. Schließlich geht es bundesrepublikanischen Tugendwächtern nicht um Meinungsfreiheit, sondern fast um ihr Gegenteil, öffentlich aufgehübscht durch wohlklingende Phrasen wie „herrschaftsfreier Diskurs“ und „wehrhafte Demokratie“. Neu war allenfalls die mittlerweile eingespielte Routine, mit der scheinbar honorige Vertreter von Staat und (Kommunal-)Politik in unheiliger Allianz mit der Straße agierten, wobei sich nicht selten, unbelastet von vertiefter Kenntnis, auch Parteien, Gewerkschaften und Zeitgeist-Kleriker hinzugesellten.

Rede ich hiermit dem widerspruchslosen Durchwinken alternativer Thesen das Wort? Verfechte ich eine Art Relativismus gegenüber jedweder historischen Deutung? Keineswegs. Auch etablierte Meinungen verdienen engagierte Verteidiger, die sich zuweilen fraglos zu Recht zu geharnischten Repliken provoziert sehen. Auf dem Forum herrscht ohnehin für Neulinge ein rauher Wind. Und wer selbst austeilt, sollte nicht wehleidig sein. Doch Streit gilt in Deutschland vielfach nicht einfach als argumentative Parade, sondern als Verstoß gegen Dogmen. Und wer hier neben der Offizialerzählung vom Geschichtsverlauf angeblich „falsch“ liegt, wird schnell zum demagogischen Bösewicht oder Volksfeind, dem man aus moralischen Gründen keine Bühne geben darf.

Hofhistoriker sind Großmeister der Gremienherrschaft, die nie gegen den Stachel löcken, Gutachten-Könige, Talkshow-Koryphäen, von Organisationen getragen und von hoher Brauchbarkeit für die aktuelle Politik, was sich zudem einträglich auswirkt.

Und so kommt es denn auch zu regelrechten Kampagnen persönlicher Anschuldigung und darüber hinaus zunehmend zu physischer Beeinträchtigung der freien Rede. Ernst Nolte mußte gar einen Brandanschlag auf sein Auto erdulden, ähnlich wie die Druckerei der JF, die gleichfalls alternativen historischen Auffassungen Raum gewährt. Man denke weiter an die inkriminierende Agitation in den neunziger Jahren gegen den Ullstein-Verlag, bis dieser „gesäubert“ war, an Karlheinz Weißmann, dessen Propyläen-Band ebenso eingestampft wurde wie Konrad Löws Studie durch die Bundeszentrale für politische Bildung, was sogar das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich rügte. Auch Fritz Tobias, Hellmut Diwald, Johannes Rogalla von Bieberstein, Bogdan Musiał, Rainer Zitelmann, ja sogar Joachim C. Fest und viele andere sahen sich übler Nachrede ausgesetzt oder juristisch bedroht.

Wie ist nun explizit die Historiker-Szene beschaffen, die solches durch (geistige) Zuträgerschaft ermöglicht oder zumindest nicht eindämmt? Ganz oben in der Typologie stehen klassische Hofhistoriker, glücklich, wenn ihre Tagungen von höchster Prominenz wie Bundespräsident, Kanzler oder Minister beehrt werden, die ihnen wiederum in oberlehrerhaften Geleitworten geschichtspolitische Hausaufgaben erteilen. Sie sind Großmeister der Gremien-Herrschaft, von DFG bis Exzellenz, die niemals gegen den Stachel löcken, Gutachten-Könige, Talkshow-Koryphäen, von Organisationen getragen und von hoher Brauchbarkeit für die aktuelle Politik, was sich zudem einträglich auswirkt. Man denke an die reichhaltige Förderung von „Das Amt“ durch den damaligen Außenminister-Darsteller.

Ihnen zur Seite stehen die Repräsentanten einer historiographischen Theokratie, eifernde Inquisitoren, die nach Ketzern und verfänglichen Textstellen fahnden, „Müllkutscher“ der Geschichte, wie Ernst Jünger einst spottete. Dieser Typus ist immer noch Produkt der NS-Zeit, jenes als Erbsünde statuierten historischen Übels schlechthin, dem sie ständig zu wehren vorgeben, während sie offenbar gleichzeitig davon infiziert sind, indem sie manche Methoden kopieren. Befriedigt von der geistigen Inzucht einer Kongreßwelt, in der die Rechtgläubigen unter sich bleiben (müssen), fehlt ihnen jeder „sportliche“ Ehrgeiz, daß man nur im Duell mit Gegnern, denen gleichermaßen alle argumentativen Waffen zur Verfügung stehen, einen nennenswerten Sieg erringt.

Wenn fachlich illiterate Gruppen und ihre aufgeputschten Emotionen entscheiden, ob ein Buch erscheinen, ein Raum zum Sprechen erteilt oder ein Text verlesen werden darf, müssen für Historiker, die diesen Namen verdienen, alle Alarm­sirenen schrillen.

Todfeind sind sie den wenigen verbliebenen genuinen Historikern, die sich, ungeachtet persönlicher und gegenwartspolitischer Folgen, mit Leib und Seele ihren Forschungen verschreiben: passionierte Sozialdetektive von brennender Neugier, wie es nun tatsächlich war, motiviert in Max Webers Sinn als kompromißlose Kämpfer selbst um Details. Ihr Einfluß ist meist gering. Keine Talkshow lädt sie ein, weil man ihrer Ergebnisse nicht sicher sein kann. Von seichten Dokumentarfilmern werden sie als wissenschaftliche Berater gemieden, da sie die Kumpanei mit dem bloß Korrekten, statt Richtigen verweigern. Kurz: ethosgeprägte Fossilien, die der Orthodoxie als Prügelknaben dienen.

Was bietet die Mehrheit der Zunft? Mainstream-Schwimmer aus ehrlicher Überzeugung, geistiger Indolenz oder Furcht vor den gesellschaftlichen Folgen der Abweichung. Ihr schlechtes Gewissen, wenn sie es haben, offenbart sich nicht. Bestenfalls gleichen sie Diplomaten, die in delikaten Punkten zu dunklen und offenen Formulierungen finden oder gesellschaftlich Heikles gänzlich meiden. Sie sind mehrheitlich nicht maliziös, kennen zuweilen sogar ideologische Bauchschmerzen. Aber alles läuft letztlich auf eine resignative Erklärung ihrer Unzuständigkeit hinaus. Solcher Mangel an Solidarität mit verfemten Kollegen, an Korpsgeist und der Bereitschaft, einen Skandal auch so zu nennen oder gar zu sehen, macht jenen Defekt aus, der zunächst ihr persönliches Niveau und Ethos beschädigt, alsdann das ganze Fach.

Persönlich, weil es zur historischen Erkenntnis einiger Basisvoraussetzungen bedarf. Wer nicht grundsätzlich für möglich hält, daß man auch das Gegenteil der eigenen Thesen vertreten kann, ohne ein Schuft zu sein; wer nicht in gewissen Abständen seine Forschungsresultate nochmals auf den inneren Prüfstand stellt und wie Schopenhauers Ödipus ständig gegen sich selbst ermittelt; wer sich in ungeliebte historische Bewegungen oder Ideen partout nicht einfühlen kann und bereits das Verstehen-Wollen als moralisches Versagen kritisiert – der meide besser diese Disziplin! Und ein Fach, das solche (zumindest halbtotalitäre) Forscherperspektive jahrzehntelang duldet, degeneriert, und sein ganzes Selbstverständnis, das sich paradoxerweise aus dem Kontrast zu 1933/45 ableitet, entpuppt sich als bigott.

Es wird immer einen breiteren, konventionellen Forschungsweg geben neben einem schmalen und steinigen Bergpfad für Querdenker. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, daß sich sogenannte „Wahrheit“ nur auf letzterem findet. Aber wenn eine Berufsgruppe sich überwiegend gleichgültig zeigt gegen kampag­nenartige Ausgrenzung von Außenseitern, wenn fachlich illiterate Gruppen und ihre aufgeputschten wie interessegesteuerten Emotionen entscheiden, ob ein Buch erscheinen, ein Raum zum Sprechen erteilt oder ein Text verlesen werden darf, müssen für Historiker, die diesen Namen verdienen, alle Alarmsirenen schrillen. Hier verlangen Anstand und Berufsehre auch von Vertretern der herrschenden Meinung, die das Neue erbittert befehden, die Klarstellung, daß es Wichtigeres gibt als Rechthaben: das gemeinsame Interesse nämlich zur Verteidigung eines pressionsfreien Streitens unter Kollegen. Von solcher Grundpflicht zur Rettung seines Fachs ist niemand dispensiert.

In Brechts „Galilei“ verdammt sich der Physiker zuletzt selbst, weil er nicht tapfer genug der Inquisition widerstanden hat. Solche heroischen Standards angesichts der Drohung mit Folter und Feuertod scheinen mir überzogen. Ernster nehme ich Ausführungen wie: „Selbst ein Wollhändler muß, außer billig einkaufen und teuer verkaufen, auch noch darum besorgt sein, daß der Handel mit Wolle unbehindert vor sich gehen kann.“ Oder: Wenn sich durch „selbstsüchtige Machthaber“ eingeschüchterte Forscher auf Wissensanhäufung beschränken, ohne die Bedingungen zu reflektieren, unter denen sie zu Handlangern werden, „kann die Wissenschaft zum Krüppel“ werden. Das maximal zu Erhoffende sei dann „ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können“.

Nun erfinden Historiker in der Regel ja nichts. Aber wo sie nicht einmal etwas finden können, sollen oder dürfen, scheinen sie mir weitgehend nutzlos.

 

Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Demnächst erscheint sein neues Buch: „Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten streiten über den Ersten Weltkrieg“.

Foto: Gegen den Strom: Um das gemeinsame Interesse an einem pressionsfreien Streit ist es schlecht bestellt