© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Bloß weg vom Amselfeld
Krisenherd Kosovo: Der aktuelle Exodus vom Balkan zeigt, wie wenig erfolgreich bisher das „nation building“ von EU und Amerikanern dort war
Nikolaus Heinrich

Pro Tag sind es Hunderte, jede Woche Tausende, etwa 30.000 sollen es allein in den vergangenen zwei Monaten gewesen sein, die ihr Land mit Sack und Pack verlassen haben: das Kosovo. Damit ist in jüngster Zeit ein Gebilde wieder vermehrt in den Schlagzeilen, das seit über zehn Jahren immer wieder für Furore sorgt.

Staaten werden in Europa üblicherweise nach der ethnischen Zugehörigkeit der Mehrheit ihrer Einwohner benannt. In Rußland wohnen vornehmlich Russen, in Frankreich Franzosen, in Italien Italiener. Europas jüngstes Land jedoch ist benannt nach der Amsel (serbisch kos), und es ist überdies eine Abkürzung, da es eigentlich Kosovo polje heißen müßte, zu deutsch Amselfeld; bekannt für eine Schlacht im Jahre 1389, die der serbische Fürst Lazar gegen das expandierende Osmanische Reich verlor und die bis heute zu den existentiellen Mythen der serbischen Nation gehört.

Dieser Mythos als heiliger Ort des serbischen Volkes war ein wichtiger Grund für das starre Festhalten Belgrads an seiner aufständischen Provinz Ende der neunziger Jahre, das letztlich zum Kosovokrieg führte und damit einhergehend zum ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr.

Dieser Krieg aber wiederum konnte erst entstehen, weil sich die ethnischen und religiösen Verhältnisse im Kosovo selbst seit der Besetzung durch die Osmanen erheblich verändert hatten: Serben stellten 1999 nur mehr eine zehnprozentige Minderheit der Bevölkerung. Die Masse der Einwohner dagegen bestand keineswegs aus ethnischen Kosovaren – sondern aus Albanern, denn ein Volk der Kosovaren gibt es gar nicht. Das ist bis heute so geblieben, nur daß der Anteil der Serben stark abgenommen hat.

Auswanderung schon zu Zeiten Jugoslawiens hoch

Der erbitterte Kampf zwischen Serben und Albanern um Heiligtum und Heimat kann heute als Geschichte gelten. Zwar gibt es gelegentlich immer noch Spannungen zwischen den kleinen Serbengebieten im Norden und dem albanisch besiedelten Rest des Landes. Auch sichern noch in diesen Tagen knapp 5.000 Soldaten der KFOR (Kosovo Force) unter Ägide der Nato (davon etwa 700 der Bundeswehr) den 1999 erkämpften Frieden. Doch eigentlich ist nicht mehr der Konflikt zwischen Serben und Albanern der Faktor, der die Tagesordnung bestimmt: Die Frage ist, wie der vor gut fünfzehn Jahren entstandene Staat sich in das internationale Umfeld einfügt und wie er sich im Inneren gestaltet.

Die statistische Bilanz der Anerkennung durch auswärtige Regierungen ist gar nicht so schlecht, wie manchmal gemutmaßt wird: Immerhin haben 109 Staaten das umstrittene Gebilde auf dem Balkan anerkannt. Allerdings fehlen in dieser Reihe einige wichtige Akteure, die – zumeist aus Angst vor eigenen Sezessionsbewegungen und dem damit gefürchteten Präzedenzfall – eher zurückhaltend sind, darunter Rußland, China, Indien und, mit einem besonderen Geschmäckle, Spanien und Griechenland als EU- und Nato-Mitglieder.

Nun ist es für die meisten Deutschen relativ gleichgültig, ob viele oder wenige Staaten das Kosovo als souveränen Staat anerkennen oder nicht. Das Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird auch wenig tangiert von der internationalen Stellung Westsaharas, Taiwans oder Tibets. Was die Bewohner unseres Landes mehr berührt, sind die Lebensumstände im und die innere Verfaßtheit des Kosovo. Und da liegt vieles im argen.

Die Auswanderung aus dem Kosovo hat schon seit jugoslawischen Zeiten lange Tradition. Serbische Repression hatte die Entfaltung albanischer Kultur unterdrückt, und wirtschaftliche Not hat ebenso dazu beigetragen, die Einwohner des Kosovo in reiche Länder Mitteleuropas zu treiben, vor allem nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Die Drangsalierung durch die Serben ist mittlerweile weggefallen – die Armut allerdings ist geblieben.

Das Durchschnittseinkommen liegt mit etwa 370 Euro im Monat noch unter dem in Albanien oder Serbien. Laut einer Schätzung der für Entwicklungshilfe zuständigen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) müssen 34 Prozent der Kosovaren sogar mit noch weniger, nämlich rund 1,50 Euro am Tag auskommen. Die Arbeitslosenquote beträgt 40 Prozent, unter jungen Leuten liegt sie sogar noch höher.

Heilung könnte allenfalls aus dem Inneren kommen, also aus kosovarischer Politik und Verwaltung. Ein Staat muß die Weichen für seine Bevölkerung stellen und dafür sorgen, daß der Zug in die richtige Richtung fährt. Das aber funktioniert im Kosovo nicht, und es kann auch nicht funktionieren, allen internationalen Bemühungen zum Trotz.

Kriminelle Machenschaften in der Führungsschicht

Die albanische Gesellschaft des Kosovo ist geprägt von inneren Zusammenhängen, die es so in Europa nur höchst selten gibt. Etwas überspitzt formuliert, zählt der einzelne nichts, die Gemeinschaft dagegen alles. Bestimmend sind Familien, Großfamilien oder, neudeutsch oder altenglisch formuliert, Clans. Die sind durchaus nicht immer hierarchisch von oben nach unten organisiert, aber sie schaffen doch Zusammenhänge, die für den Alltag von Bedeutung sind. Beziehungen für Heiraten sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie der Kanun, ein altes Gesetz, das den Ausgleich von Verfehlungen regelt – in Deutschland würde man dazu Blutrache sagen.

Gerade diese Clanstruktur ist das eigentliche Hindernis auf dem Weg des Kosovo in eine moderne Staatlichkeit. Denn eng zusammenhaltende Familienverbände bilden auch die Grundlage für eine international agierende organisierte Kriminalität. Nicht umsonst ist in Deutschland, der Schweiz und Österreich immer wieder die Rede von einer albanischen Mafia, die viele Fäden zieht in der Prostitution, im Drogenhandel, beim Diebstahl von hochwertigen Autos, bei der illegalen Einwanderung und damit verbunden letztlich auch der Geldwäsche.

Schon vor Jahren führte ein durch die Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichter Bericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) über Verwicklungen nahezu der gesamten kosovarischen Führungsschicht in kriminelle Machenschaften zu einer Krise, die in der Entführung deutscher Geheimdienstmitarbeiter im Kosovo gipfelte. Das Geld, das in den neunziger Jahren in den Unabhängigkeitskampf der Albaner gegen die Serben floß, kam – wenn es nicht von westlichen oder muslimischen Regierungen beigesteuert wurde – zu einem großen Teil aus Geschäften der organisierten Kriminalität. So ist es nicht verwunderlich, daß auch heute die großen und kleinen Häupter der kosovarischen Republik – allen voran der Außenminister und ehemalige Premier Hashim Taçi von der Demokratischen Partei Kosovo (PDK) – mehr oder minder in mafiöse Machenschaften verstrikt sind. Das „noch“ fehlt hier bewußt, denn ein Ende dieser Situation ist nicht in Sicht.

Aus westlicher Sicht hat die Clan-Bezogenheit der Albaner allerdings auch ihre Vorteile. Versuche der Golfstaaten und Saudi-Arabiens, mit Spenden den Islam – immerhin die Religion von über neunzig Prozent der kosovarischen Albaner – in eine wahhabitische Richtung zu lenken, scheinen kaum von Erfolg gekrönt zu sein.

Ist nun das Kosovo ein „failed state“, ein gescheiterter Staat? Verglichen mit Somalia und Libyen wohl nicht. Es gibt eine Administration, die Pässe ausgibt, auch eine landesweit agierende Verwaltung, dazu etliche, durch internationale Organisationen gestützte Behörden und Institutionen im gesamten Kosovo. Eine europäische Polizeimission bemüht sich, Rechtsstaatlichkeit zu fördern und die organisierte Kriminalität zu bekämpfen – freilich mehr ein Feigenblatt für die Europäer, die nicht zugeben können, daß ihre Ordnungsvorstellungen vor manchen Realitäten einfach zum Versagen verdammt sind.

Nein, das Kosovo ist kein Staat wie Deutschland, und es ist auch kein zerfallenes Gebilde wie Somalia. Es ist etwas dazwischen: Clan-stark und aus verschiedenen Gründen mafiös, nationalstolz und gleichzeitig zerrissen in Clans und Religionsgemeinschaften, auf Gleichberechtigung pochend und andererseits zutiefst ablehnend gegenüber als minderwertig betrachteten Minderheiten – der jahrelange Exodus von bei uns zuweilen als Zigeuner bezeichneten, dort aber zum Teil unter anderen Namen (Ägypter usw.) bekannten Minderheiten mag nur als Beispiel dienen. Tatsache ist aber, daß die anfängliche Euphorie, mit der die kosovarischen Albaner um die Jahrtausendwende herum die Unabhängigkeit begrüßt haben, nunmehr dahin ist.

Die Gewinne aus der organisierten Kriminalität waren wohl vor Jahren ausreichend, um eine Partisanenbewegung wie die UCK mit Sprengstoffen und Maschinenpistolen zu versorgen, doch um den Haushalt eines modernen Staates zu füllen, da fehlt noch eine Menge. Moderne Kommunikation tut das ihre dazu, daß auch im letzten Dorf des Kosovo, selbst bei dürftigen Tagesverdiensten von ein bis zwei Euro, die Erkenntnis fortschreitet, daß es sich in anderen Teilen Europas besser leben läßt.

„Ich verstehe ja eure Verzweiflung“

Die in letzter Zeit stark angestiegene Zahl von Asylbewerbern aus dem Kosovo spricht für diese These ebenso wie die Tatsache, daß nunmehr nicht nur Roma kommen, sondern auch ethnische Albaner in großer Zahl (siehe Seite 4). „Ich verstehe ja eure Verzeiflung“, beschwor kürzlich die parteilose kosovarische Staatspräsidentin Atifete Jahjaga ihre Landsleute, „aber wir können es uns nicht leisten, noch mehr Bürger zu verlieren.“ Solche Aufrufe, die Bevölkerung des Landes solle doch daheim bleiben, erscheinen zynisch, denn schließlich ist es gerade die mafiöse Verstrickung der Führungsschicht, die Investitionen im Land selbst nahezu unmöglich macht – jedenfalls für Firmen aus der EU. Chinesen mögen darüber anders denken, ebenso in islamischem Sinn handelnde Investoren aus reichen Ölstaaten Arabiens.

Doch bei allen Ähnlichkeiten im Glauben, auch bei aller Finanznot, und auch bei aller Clan-Gebundenheit: Das Paradies für die Kosovaren, seien sie nun Albaner, Serben, Roma oder andere Minderheiten, ist letztlich ein gutes, wirtschaftlich gesichertes Überleben. Für reiche Albaner mag es das überall geben. Für arme und solche, die sich der Mitte zurechnen, nur in Westeuropa. Deshalb wird der Zustrom so schnell auch nicht abreißen.

 

Jung und arm

Nur knapp halb so groß wie Hessen ist die Republik Kosovo (Hauptstadt: Pristina). 88 Prozent ihrer 1,74 Millionen Einwohner (Volkszählung 2011) sind albanischer, etwa sieben Prozent serbischer Abstammung. Der Rest verteilt sich auf andere Ethnien, darunter Türken, Bosnier, Roma und Ashkali. 2008 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung von Serbien, die allerdings noch nicht von allen Ländern anerkannt wurde, darunter auch EU- bzw. Nato-Staaten wie Spanien und Griechenland.

Mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner bei 2.794 Euro (insgesamt etwa 5,149 Milliarden Euro) bleibt das Kosovo das ärmste Land auf dem Balkan, wobei zuverlässige Zahlen wegen der Schattenwirtschaft schwer zu ermittlen sind. Wichtige Einnahmequelle sind Transferleistungen aus der kosovarischen Diaspora in Höhe von bis zu etwa 500 Millionen Euro pro Jahr. Das Kosovo verfügt über Rohstoffvorkommen wie Bauxit, Blei, Zink, Nickel, Chrom und Seltene Erden.

Seit Dezember 2014 regiert eine (auf Druck westlicher Geberländer zustande gekommene) Koalitionsregierung aus den politischen Gegnern Demokratische Liga (LDK) und Demokratische Partei (PDK) unter Isa Mustafa (LDK). Politikern der aus der Untergrundarmee UÇK hervorgegangenen PDK werden Verstrickungen in Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Foto: Zug der Zehntausend: Kosovaren aus Pristina gehen in der vergangenen Woche durch die serbische Hauptstadt Belgrad, um mit Bussen an die ungarische Grenze zu fahren

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