© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Verteidigen oder doch lieber die Welt retten
Nato: Nach dem verlustreichen Abenteuer Afghanistan will das Bündnis den Fokus nun doch lieber auf Europa richten
Marc Zoellner

So stolz hatte man Jens Stoltenberg lange nicht jubilieren sehen. „Dank des bemerkenswerten Einsatzes unserer Truppen haben wir erreicht, wozu wir aufgebrochen sind“, verkündete der norwegische Nato-Generalsekretär, bis 2013 Ministerpräsident seines Landes, vor den Reportern der afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News (PAN). Afghanistan sei fortan „kein sicherer Hafen für Terroristen mehr“.

Nicht ganz zu Unrecht, denn was das nordatlantische Verteidigungsbündnis in Zusammenarbeit mit den Truppen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe Isaf nach über einem Jahrzehnt am Hindukusch hinterläßt, erscheint auf den ersten Blick tatsächlich bemerkenswert: „Die Müttersterblichkeit ist gesunken, die allgemeine Lebenserwartung hingegen gestiegen, und wir sehen eine dynamische Medienlandschaft wachsen“, so Stoltenberg. Mit Hilfe freier Wahlen hätten sich Millionen von Afghanen eine Regierung der nationalen Einheit geschaffen. Und sowieso hätten die Bürger Afghanistans „eine bessere Chance auf eine bessere Zukunft als zu jedem anderen Zeitpunkt in ihrer Geschichte“.

Afghanistans Armee soll es nun allein richten

Gut dreizehn Jahre dauerte die nicht unumstrittene Nato-Mission gegen Talibanmilizen und Terroristen des Al-Qaida-Netzwerkes in Zentralasien an; länger als jeder andere Kampfeinsatz in ihrer bisherigen Chronologie. Doch anstelle des erwarteten Paukenschlags kam es lediglich zum peinlichen Eklat, als das Bündnis Ende Dezember vergangenen Jahres die Segel strich: Versteckt in einer Turnhalle am Rande der Hauptstadt Kabul mußte US-General John Campbell seine Abschiedsrede vor einer Handvoll auserlesener Soldaten und Journalisten halten. Aufgrund von Anschlagswarnungen war selbst eine Liveübertragung der Feierlichkeiten verboten. Die Sicherheitslage in Afghanistan erwies sich für das Oberkommando des Nordatlantikbündnisses als zu prekär, um ihren Oberkommandierenden öffentlich präsentieren lassen zu können.

Nur wenige Tage später folgten die ersten Talibanüberfälle des neuen Jahres. Hunderte Aufständische stürmten in der südafghanischen Provinz Kandahar die Kontrollstelle von Maiwand und töteten fünf Polizisten. In Chishti Sharif im westlichen Herat wurden vier weitere Beamte von bewaffneten Milizionären getötet, und im nördlichen Kunduz sprengten sich zwei Selbstmordattentäter vor einer Polizeistation in die Luft; kurz bevor eine Autobombe die afghanische Provinzabgeordnete Angeza Shinwari schwer verletzte sowie ihren Leibwächter aus dem Leben riß.

In sämtlichen Fällen übernahmen die Taliban die Verantwortung für die Angriffe. Viele ihrer in die Attentate verwickelten Anhänger, berichteten Augenzeugen später, hätten sogar selbst Polizei- und Armeeuniformen getragen. Bei mindestens einem der Angriffe wird selbst eine Kooperation zwischen Überläufern der Behörden mit den radikal-islamischen Milizen vermutet. „Insider-Attacke“ nennen Fachkreise diese in Afghanistan bei den Taliban immer populärer werdende Taktik.

Bereits den Isaf-Truppen waren hiergegen die Hände gebunden; der folgenschwerste dieser Angriffe kostete mit Harold Greene im August vergangenen Jahres sogar das erste Mal seit dem Ende des Vietnamkriegs einen hochdekorierten US-General das Leben. Die afghanische Armee fühlt sich, seit dem Ende des Nato-Kampfeinsatzes nun auf sich allein gestellt, speziell gegen diese Art von Angriffen machtloser denn je.

Doch von einer Wiederaufnahme aktiver Kampfeinsätze am Hindukusch möchte man im Führungskreis der Nato am liebsten rein gar nichts mehr wissen. Mit 3.485 getöteten Soldaten habe man als „Friedensmacht“ in Afghanistan in dreizehn Jahren genug Blutzoll gezahlt, so die einhellige Meinung. Bei ihrem letzten Treffen der Verteidigungsminister des Militärbündnisses am 5. Februar in Brüssel schrieben diese damit auch selbst ein kleines Stück Geschichte: Erstmalig seit den Anschlägen vom 11. September 2001 stand der zentralasiatische Staat nicht mehr als Diskussionspunkt auf dem Tagungsprogramm. Afghanistan gilt unter den Ministern als abgehakt – auch wenn die Isaf-Nachfolgemission „Resolute Support“ (RSM) zu Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungszwecken 12.000 Soldaten der Nato – darunter 850 Bundeswehrsoldaten – sowie aus 14 Nato-Partnerstaaten umfassen.

Der Fokus soll fortan wieder speziell auf Europa gerichtet werden. „Unser Treffen heute ist ein wichtiger Schritt vorwärts, um die militärstrategischen Positionen der Allianz neu anzupassen“, hieß es nach Abschluß der Versammlung in einer Presseerklärung der Nato. Dazu zähle insbesondere „die Abschreckung von Überfällen auf Alliierte der Nato sowie der Beweis der Bereitschaft, die Gebiete der Nato gegen diese zu verteidigen.“

Daß eine koordinierte Neuausrichtung der grundlegenden Nato-Ziele dringend notwendig sei, um auch für die Zukunft gerüstet zu sein, hatten deren Mitglieder bereits auf dem vergangenen Treffen des Bündnisses im walisischen Newport feststellen müssen. Mit gebundenen Händen mußten die Alliierten damals zusehen, wie die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim von Truppen der Russischen Föderation besetzt wurden. Seitdem tobt in der Ukraine, die seit Februar 2005 mit der Nato im Rahmen des Programms der Partnerschaft für den Frieden (PfP) kooperiert, ein erbarmungsloser Krieg zwischen ethnisch-russischen Separatisten und dem ukrainischen Militär.

Die Nato ist „verpflichtet“, Georgien zu helfen

Ab Anfang März, kündigte Ben Hodges, Oberbefehlshaber der Nato-Landstreitkräfte in Europa, an, würde ein US-amerikanisches Bataillon im westukrainischen Lemberg (Lwiw) stationiert werden, um die einheimischen Soldaten im Umgang mit modernen Raketen- und Mörserabwehrtechnik zu trainieren. Doch während die Vereinigten Staaten auf Waffenlieferungen zur Unterstützung der Regierung in Kiew drängen, lehnen die westeuropäischen Staaten und insbesondere Deutschland dieses Vorgehen konsequent ab. Gerade Kanzlerin Angela Merkel befürchtet eine Eskalation des Konflikts.

Vielmehr baut Deutschland auf die abschreckende Wirkung einer hochgerüsteten militärischen Allianz, gerade bezüglich dem russischen Nachbarn, sowie auf die in Wales beschlossenen neuen Grundpfeiler des Bündnisses: Kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und Sicherheitskooperation. Nach den militärischen Abenteuern am Hindukusch, im ehemaligen Jugoslawien sowie am Horn von Afrika solle sich die Nato wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren – den Artikel 5 ihrer Satzung, die geschlossene Verteidigung im Angriffsfall.

In dieser neuen Strategie wird Deutschland eine nicht unbeachtliche Schlüsselfunktion übernehmen. So soll allein die Hälfte der rund 5.000 Soldaten, die künftig als VJTF die Speerspitze der Nato-Eingreiftruppen formen werden, aus Deutschland stammen. VJTF – das steht für Very High Readiness Joint Task Force, eine Eliteeinheit mit fünf Brigaden, an welcher sich neben der Bundesrepublik auch Frankreich, Italien, Polen, Spanien sowie das Vereinigte Königreich beteiligen werden.

Die VJTF, so sehen derzeitige Planspiele des Nato-Generalstabs vor, soll dauerhaft kaserniert und somit einsatzbereit bleiben und innerhalb von zwei bis sieben Tagen jeglichen Einsatzort weltweit erreichen können. Die sogenannten Nato Force Integration Units (NFIU), speziell zu dieser Mission ausgebildete Koordinierungs- und Logistikeinheiten, sollen herbei Verantwortung bezüglich der Bestimmungsorte und Einsatzziele tragen. Sechs dieser Zentren sollen demnächst errichtet werden: mit Blick auf Rußland je eines in den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie in Polen, in Rumänien und, um auch im Nahen Osten rasche Präsenz zeigen zu können, in Bulgarien. Die Kosten dafür würden, zumindest vorerst, im Rahmen des Nato-Schlüssels proportional zu gleichen Teilen gesplittet.

„Wenn sich eine Krise ankündigt, werden diese Basen sicherstellen, daß die nationalen sowie die Nato-Truppen der kompletten Allianz in der Lage sein werden, von Beginn an als ein Ganzes zu agieren“, erklärte Stoltenberg zum Abschluß der Konferenz in Brüssel. „Sie werden die rasche Verlegung vereinfachen, die Planung der gemeinschaftlichen Verteidigung unterstützen und Hilfeleistung im Bereich der Ausbildung sowie des Trainings liefern.“

Unterstützt von Heer, Luftwaffe und Marine, könnten dadurch bis zu 30.000 Soldaten, so die geplante Stichzahl der Nato für ihre schnelle Eingreiftruppe, kurzfristig zur Grenzsicherung sowie in Krisengebiete abkommandiert werden. Zu diesen künftig möglichen Missionen zähle jedoch nicht nur Europa, denn auf der Tagesordnung des Militärbündnisses ersetzte Anfang Februar gerade der Unruheherd des Kaukasus die Republik Afghanistan.

„Die Nato ist verpflichtet, Georgien zu helfen, seine Verteidigung zu modernisieren“, fuhr Stoltenberg fort. „Denn dadurch ermöglichen wir diesem Land, näher an eine Nato-Mitgliedschaft heranzurücken.“ Sicher ist: Auch Georgien fühlt sich bedroht. Mit Südossetien und Abchasien finden sich gleich zwei Provinzen des Landes de facto russisch besetzt (JF 26/14). Gerade in den ehemals der Sowjetunion zugehörigen Ländern des Baltikums sowie den Nato-Mitgliedsstaaten Osteuropas besitzt Tiflis gleich eine ganze Reihe namhafter, in der Allianz zunehmend an Einfluß gewinnender stabiler Bündnispartner. Doch schon einmal hatte die nordatlantische Allianz Georgien im Stich lassen müssen, im Kaukasuskrieg vom August 2008, als russische Truppen ungehindert auf dessen Hauptstadt Tiflis zumarschierten. Dafür, daß sich Vorgänge wie dieser sowie die Besetzung der Krim nicht wiederholen können, soll nun die VJTF als jederzeit mobile Abschreckung sorgen. Mit deutschen Soldaten an der Spitze.

 

Einsatzgebiete der Nato

Stolz verweist die Nato via Facebook auf ihre Erfolgsgeschichte im Jahr 2014. 200 Übungen habe das Bündnis zu Wasser, am Boden und in der Luft abgehalten. Zudem 400 russische Militärmaschinen, die sich dem Luftraum von Nato-Ländern angenähert hätten, abgefangen. Auch habe man sechs östliche Bündnispartner mit starker Nato-Präsenz unterstützt. Neben der Luftraumüberwachung über dem Baltikum, Slowenien und Island sowie der Seeüberwachung im Mittelmeer (Operation Active Endeavour ) und vor der Küste Somalias (Operation Ocean Shield) leistet die Nato Lufttransport- und Führungsunterstützung im Sudan und in Somalia. Zur integrierten Luftverteidigung sind an der türkisch-syrischen Grenze Nato-Soldaten – darunter 400 Bundeswehrsoldaten – stationiert. Knapp 5.000 Nato-Soldaten beteiligen sich am Kosovo-Force-(KFOR)-Einsatz und 12.000 Soldaten sollen die nationalen Sicherheitskräfte in Afghanistan beraten, ausbilden und unterstützen (Resolute Support Mission (RSM)).

Foto: Kfor-Kommandeur Generalmajor Francesco P. Figliuolo, Jens Stoltenberg, US-Admiral Mark Ferguson, Befehlshaber Allied Joint Force Command Neapel (v.l.n.r.): Wo soll es langgehen? Bei seinem Antrittsbesuch bei der 1999 ins Leben gerufenen Kosovo Force weist der Nato-Generalsekratär den Nato-Militärs den Weg

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