© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Philosophische Kassandra
Kritiker des Kulturrelativismus: Der französische Autor Alain Finkielkraut hat die migrationspolitischen Voraussetzungen der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ früh analysiert
Felix Dirsch

Die französische Intelligenz gilt als lernfähiger im Vergleich zur deutschen. Vor knapp vier Jahrzehnten rief der sogenannte „Gulag-Schock“ bei etlichen prominenten Vertretern der radikalen Linken (anders als in Deutschland) ein Umdenken hervor. André Glucksmann ist ein namhaftes Beispiel.

Nun sind auch in der unmittelbaren Gegenwart bei einigen französischen Intellektuellen dramatische Wendemanöver festzustellen. Alain Finkielkraut, der vor rund zwei Jahrzehnten in Deutschland mit seinem Buch „Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert“ Bekanntheit erlangte, sorgt mit seinen Ansichten zur Identität Frankreichs für Aufsehen. Zusammen mit dem Sprachwissenschaftler Jean-Claude Milner und dem Dichter Renaud Camus, die wie er früher auf seiten der Linken engagiert waren, weist der Nachfahre jüdischer Einwanderer aus Polen auf drastische Gefahren für die französische Kultur hin, die die vermehrte Migration mit sich bringt. Er nimmt sogar das Verschwinden französischer Eigenarten am Horizont wahr. Für Beobachter des Zeitgeschehens gilt er als Verteidiger des abendländischen Westens und der Werte von „1789“ – eine Haltung, die öfter als reaktionär eingestuft wird.

Finkielkraut geht von Alltagsbeobachtungen aus. Viele Franzosen verlassen ihre angestammten Stadtviertel, weil sie ihnen – bedingt durch viele unintegrierbare Neuankömmlinge – fremd geworden sind. Er verschließt auch nicht die Augen vor den Schwierigkeiten für die jüdische Minderheit. Jüngst machte ein Künstler mit bretonisch-kamerunischer Abstammung namens Dieudonné von sich reden. Die Kultfigur vieler Franko-Araber führte den judenfeindlichen „Knödelgruß“ ein und erregte die Gemüter überdies durch markige Sprüche hart an der Grenze zur Strafbarkeit. Derartige multikulturelle Konflikte, einschließlich terroristischer Ereignisse, werden nach Finkielkraut den zukünftigen französischen Alltag nachhaltig bestimmen.

Der Warner Finkielkraut ist öfter verlacht worden. Der Anschlag auf Charlie Hebdo und die Morde in einem jüdischen Lebensmittelgeschäft kurz darauf haben die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Doch dürften die strukturellen Folgen des längerfristig-migrationsbedingten Bevölkerungsaustausches, der seit etlichen Jahren unübersehbar ist, noch gravierender sein als punktuelle Bluttaten, ist doch das Potential für künftige islamistische Attentate angesichts der gestiegenen, primär moslemischen Einwanderer erheblich. Ebenso sind die vorhandenen Rückzugsräume für mögliche Täter beträchtlich.

Haß unter Zuwanderern auf die neue Heimat

Nicht zufällig fragt Finkielkraut deutsche Bekannte und Freunde stets nach der Rezeption des Bestellers von Thilo Sarrazin. Wie dem deutschen Publizisten bereiten dem französischen Gelehrten Probleme bezüglich der Weitergabe des nationalen kulturellen Erbes Kopfzerbrechen. Dieses besteht für ihn ebenso aus Cafés und Croissants wie aus Literatur und Film. In seiner neuen Schrift „L’identité malheureuse“ („Die unglückliche Identität“) betont er die Notwendigkeit der Übertragung von grundlegenden Regeln, Werten und Traditionen, die Frankreich seit jeher prägen, auf Autochthone wie Neubürger gleichermaßen. Immer wieder hebt er hervor, daß eine echte Eingliederung bei vielen Zuwanderern nicht mehr stattfinde und auch gar nicht mehr verlangt werde. Bei vielen Neuankömmlingen, primär aus dem islamischen Kulturkreis, herrsche vielmehr Haß auf die neue Heimat vor. Selbst das ius soli, eine heilige Kuh französischer wie deutscher Linker, bleibt nicht unhinterfragt.

Erlahmende Triebkräfte der europäischen Kultur

Natürlich vermeidet Finkielkraut den oft provokativen Tonfall aus den Reihen der „Génération identitaire“, die sich ihrer Möglichkeiten durch die verbreitete Inländerfeindlichkeit beraubt sieht. Dennoch nähert er sich auf leisen Sohlen der Rechten an. In einem Interview mit dem Spiegel Ende 2013 fehlt zwar der unvermeidliche Kotau nicht, als er konstatierte: Der Front National appelliere an niedere Instinkte. Freilich räumte er ein, diese Gruppierung verteidige die Werte der Republik und des Laizismus. Selbst eine solche moderate Konzession geht vielen politisch Korrekten schon zu weit.

Kaum ein französischer Intellektueller streicht die grassierende „Verachtung des Eigenen“ (Frank Lisson) so heraus wie Finkielkraut. In einem Streitgespräch mit seinem heftigsten Opponenten, dem Neokommunisten Alain Badiou, beklagte er die erlahmenden Triebkräfte der europäischen Kultur. Wenn ein europäisches Gericht das Anbringen von Kreuzen in italienischen Klassenzimmern rüge, so werde das weithin akzeptiert. Entschieden sich die Schweizer hingegen mehrheitlich für ein Verbot von Minaretten, sorge dies für einen Sturm der Entrüstung. Ein Land, das sich mehr und mehr zur „Durchgangshalle“ beliebig austauschbarer Konsumenten und Produzenten entwickle, die keine Erinnerungs- und Kulturgemeinschaft mehr bilden könnten, sei kaum zukunftsfähig. „Reflektierter Pétainismus“ ist noch das freundlichste Echo, das ihm aus dem linksliberalen Blätterwald entgegenhallt.

Auch Finkielkrauts europapolitische Überzeugungen stoßen viele Meinungsmacher vor den Kopf. Der Fünfundsechzigjährige sieht die EU als Feuerwehr, die den Brand selbst gelegt hat. Im Disput mit dem kürzlich verstorbenen Soziologen Ulrich Beck insistierte er darauf, daß der Brüsseler Quasi-Staat die Bürger weder vor den Folgen eines aus den Fugen geratenen Finanzkapitalismus hat schützen können noch vor den Konsequenzen unkontrollierter Einwanderungsströme. Parallel zur Nation werde die Demokratie schrittweise ausgehöhlt.

Vor dem Hintergrund solcher Debatten um Finkielkraut verwundert es nicht, daß die Aufnahme als „Unsterblicher“ in die Académie française 2014 einen Eklat nach sich zog. Ein Altmitglied dieser ehrwürdigen Institution entblödete sich nicht im Vorfeld zu tönen, er sei gegen die Berufung eines Anhängers von Marine Le Pen. Der Ehrendoktor der Universität Tel Aviv ist rüde Attacken (bis hin zum Faschismus-Vorwurf!) inzwischen gewohnt. Er weiß aber, daß seine Stimme zur Rettung jener Fundamente, auf denen Europa beruht, gebraucht wird – nach „Une Sept“, wie das französische „Nine Eleven“ vielleicht einmal genannt werden wird, und den wohl folgenden Debatten über eine etwaige Neuausrichtung der Einwanderungspolitik mehr denn je.

Foto: Alain Finkielkraut (2013): Alltagsbeobachtungen

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