© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

„So nah wie möglich an der Wahrheit“
NSU-Prozeß: Ein neuer Beweisantrag setzt den hessischen Verfassungsschutz unter Druck
Marcus Schmidt

Wenn nach Ende des Münchner NSU-Prozesses gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte Bilanz gezogen wird, dürfte nicht zuletzt auch die Rolle der Anwälte der Nebenklage in den Blick geraten. Immer wieder geben sie mit hartnäckigen Zeugenbefragungen oder überraschenden Beweisanträgen dem Prozeß eine neue Richtung und haben damit bereits mehr als einmal die Prozeßtaktik des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl durchkreuzt. Dabei gerät immer wieder die Rolle des Verfassungsschutzes in den Blick, die nach Meinung der Anwälte der Nebenklage von der Anklage bewußt ausgeblendet wird.

Am Wochenende wurde nun der bisher spektakulärste Vorstoß bekannt. Er betrifft den Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel, in dem sich zum Tatzeitpunkt ein Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz aufhielt: Andreas Temme. Dieser stand nach dem Mord, dem letzten der neun dem NSU aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zugeschriebenen Morde an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern, zeitweise unter Tatverdacht. Er hatte sich als einziger Besucher des Internetcafés nicht bei der Polizei als Zeuge gemeldet. Seinen Angaben zufolge war er zufällig und rein privat in dem Café. Bis heute behauptet Temme, der hierzu auch vom NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages befragt wurde und bereits mehrfach im Münchner Prozeß aussagen mußte, er habe von der Tat nichts mitbekommen. Wirklich glaubhaft ist das nicht – indes konnte Temme bislang auch nicht das Gegenteil bewiesen werden.

Die Hamburger Anwälte der Familie Yozgat, Tho­mas Bli­wier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle, haben nun den Verdacht genährt, der hessische Verfassungsschutz könnte mehr über den Mord wissen, als er bislang zugibt. „Nach der Aus­wer­tung der Tele­kom­munika­ti­ons­über­wa­chung zwi­schen dem Ver­fas­sungs­schüt­zes T. und sei­ner Dienst­stelle haben sich neue Erkennt­nisse für eine Ver­stri­ckung des Ver­fas­sungschut­zers in den Mord an Halit Yozgat erge­ben. Wir haben dem Ober­lan­des­ge­richt ent­spre­chende Beweis­an­träge übermittelt“, heißt es in einer Mitteilung der Kanzlei.

Dabei geht es laut einem Bericht der Welt am Sonntag um ein Telefonat von Temme mit seiner Behörde, das von der Polizei abgehört wurde, nachdem er unter Tatverdacht geraten war. In dem Gespräch bereitet der Geheimschutzbeauftragte des Verfassungsschutzes den Kollegen auf die Vernehmung durch die Polizei vor.

Volker Bouffier soll vor Gericht erscheinen

In diesem Zusammenhang äußert der Geheimschutzbeauftragte: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, daß irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren“, zitiert die Zeitung aus dem Schriftsatz der Anwälte. Dieser Satz sei in der ursprünglichen Polizeiabschrift des Telefonats nicht enthalten gewesen und habe sich zunächst nur auf dem Originalmitschnitt befunden. In dem Telefonat soll der Geheimschutzbeauftragte T. auch geraten haben: „So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben“, berichtet die Welt weiter.

Das Gespräch zwischen Temme und dem Geheimschutzbeauftragten wirft die Frage auf, ob der hessische Verfassungsschutz im Vorfeld der Tat von den Mordplänen informiert wurde. Dafür könnte sprechen, daß Temme am selben Tag vor der Tat mit dem V-Mann Benjamin G. telefoniert hat. Bekam der Verfassungsschützer von G., der in der rechtsextremistischen Szene als gut vernetzt galt, einen Tip, daß in dem Internetcafé „etwas passiert“? Darauf könnte das nun aufgetauchte Zitat des Geheimschutzbeauftragten des hessischen Verfassungsschutzes tatsächlich hinweisen. Allerdings erscheint es wenig wahrscheinlich, daß der Tipgeber Temme darüber informiert hat, daß in dem Internetcafé ein Mord geplant ist. Es wäre jedenfalls sehr verwunderlich, würde sich ein Verfassungsschützer nach einem solchen Hinweis in das Café setzen und in aller Ruhe abwarten, was passiert. Doch angesichts des undurchsichtigen Agierens des Verfassungsschutzes in diesem Fall erscheint Beobachtern auch dies nicht mehr völlig ausgeschlossen.

Für Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) könnte der Fall unangenehm werden. Die Nebenklage-Vertreter im NSU-Prozeß haben nach Angaben der Welt beantragt, ihn als Zeugen vorzuladen. Als Innenminister verhinderte Bouffier 2006, daß die Polizei im Zuge der Ermittlungen gegen Temme den V-Mann Benjamin G. vernehmen konnte. Der Schutz der Quelle wurde damals höher bewertet als die Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat.

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