© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

So ging es zu in jenen wilden Jahren
Episoden der Zügellosigkeit: Andreas Dresen hat Clemens Meyers Nachwende-Roman „Als wir träumten“ fürs Kino verfilmt
Sebastian Hennig

Nachdem die unselige innerdeutsche Grenze weggefallen war, brach im vormals eingeschlossenen Gebiet eine Phase der totalen Entgrenzung an. Der übliche Freiheitsdrang der Heranwachsenden traf nirgendwo auf nennenswerten Widerstand. Während die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern dem Übergang in neuen Verhältnisse zugewendet war, blieb der Jugend ein schier unübersehbares Betätigungsfeld.

In seinem Debütroman „Als wir träumten“ (2006) hat der Schriftsteller Clemens Meyer diese wilden Jahre in martialischen Episoden belletristisch ausgeschlachtet. Andreas Dresen hat das effektvolle Buch nun verfilmt. Herausgekommen ist dabei eine eruptive Bildfolge um fünf Jungen und das „Sternchen“ (Ruby O. Fee). Die wird von Dani (Merlin Rose) angehimmelt. Er kann ihr aber nur kurz nahe kommen. Für die Liebe ist die Zeit ohnehin viel zu aufregend. Eine andere Reihenfolge wird angestrebt. In einer Industriehalle eröffnen sie eine illegale Techno-Disko. „Wir werden die Größten sein. Dann kommen auch die Mädchen.“

Die einstigen Volkspolizisten hatten keine Autorität mehr beim Volk. Dafür prallt der rücksichtslose Freiheitsdrang bald auf eine andere Gewalt vom gleichen Schlage. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit einem rivalisierenden Geschäftemacher, der eine Meute Skinheads auf sie ansetzt. Ihr Versuch einer Neutralisierung von Gewalt durch Gegengewalt mittels Erregung der Antifa bleibt folgenlos, da diese meint, es handle sich bei den Glatzen nicht um richtige „Nazis“.

In den eingeflochtenen Rückblenden werden die sechs Hauptfiguren von Kinderdarstellern gespielt. Eine dieser Szenen zeigt den sozialistischen Typenbau einer Schule während einer militärischen Alarmübung. Die Kinder sind als Verletzte auf den Gängen und Treppen arrangiert. Sie tragen Pappschilder um den Hals, denen die Art der Verwundung aufgeschrieben ist: „Bauchschuß“, „Splitterverletzung“ und dergleichen. Auf Tragen werden alle in eine Baracke verbracht. „So ist es richtig. Immer aktiv sein. Immer mit dem Kollektiv vorneweg. So wird man ein guter Soldat“, lobt der anwesende Oberst der Nationalen Volksarmee einen Schüler.

Als Katja vor der Klasse von den ruhmreichen Sowjetsoldaten vorliest, erglühen die roten Kugeln ihrer Zopfhalter vom Sonnenlicht. Später dagegen ereignet sich das meiste im Dunkel der Nacht, in schattigen Winkeln, Abrißbuden und heruntergekommenen Wohnungen. Ein routinierter Autodieb schwärmt von den Vorzügen der neuen Zeit. Wo sonst eine Vorverurteilung genau ins Schwarze traf, kann jetzt ein gewiefter Verteidiger alle Register ziehen: „In der DDR war ich im Kinderheim. Ich bin ohne Liebe aufgewachsen.“

Situationskomik berührt nicht den Ernst des Films

Der Regisseur hat die erzählte Aneinanderreihung wüster Vorkommnisse zum Film gezügelt. Möglicherweise ist der Stoff dadurch sogar literarischer als seine Vorlage geworden. Daran hat auch Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase Anteil, der mit Dresen bereits „Sommer vorm Balkon“ (2005) und „Whisky mit Wodka“ (2009) gemacht hat. Der heute Dreiundachtzigjährige hatte im verwüsteten Nachkriegs-Berlin das gleiche Alter wie die Filmhelden und erlebte ähnlich „das sprunghafte Freisetzen von Lebensenergie“.

Autor Meyer schätzt die Gelegenheit, sein Buch „von einem erfahrenen Drehbuchautor in einen Film umwandeln zu lassen“. Er sieht die „kunstvolle Anarchie“ bewahrt und einen „Rausch an Motiven und Bildern“ erzeugt. Auf die wirkungsstarke Inszenierung dieses Rausches versteht sich Andreas Dresen bestens. Es regiert das hektische Dauer-

ereignis als Nichthandlung. In der Art von Musik-Videoclips sind die Bilder rasch gegeneinander geschnitten. Zwischentitel unterteilen in großen Buchstaben die Szenen.

Die gelegentliche Situationskomik berührt nicht den grundsätzlichen Ernst des Films. Der Kinobesucher bekommt weniger erzählt als vielmehr augenscheinlich vorgeführt, wie es zuging in jenen wilden Jahren. Die hektische Zusammenhangslosigkeit der Ereignisse entspricht dem damaligen Lebensgefühl. So tritt im Film, wie im richtigen Leben, in den Hintergrund, daß die Jungen währenddessen immer noch Schüler sind. Die prägendere Schule war die Straße.

Zwei Wochen Jugendhaft als Schuß vor den Bug

Dresen arbeitet hier mit allen Schauspielern zum erstenmal. Und er läßt sie sich richtig in ihre Rollen hinein toben: „Als die Jungs scheinbar besoffen im Auto durch die Leipziger Innenstadt gebrettert sind, haben sie den Passanten nicht nur freundliche Dinge zugerufen. Da gab es dann Anzeigen gegen uns.“ Gezeigt werden eindringliche und glaubwürdige Typen. Auf Dialekt und übertriebenes Lokalkolorit wird verzichtet. Keinerlei politische oder zeitgeschichtlich erhellend wirkende Sätze werden ihnen in den Mund gelegt. Allein die Empfindungen und Handlungen sind wichtig.

Der Film feiert einen Vitalismus, ohne die Abgründe dieser Maßlosigkeit zu leugnen. Die Freunde probieren alles Mögliche aus. Dabei geht viel zu Bruch, auch in ihnen selbst. Und es gehört Glück dazu, die Kurve zu kriegen. Zwei Wochen Jugendhaft werden für Dani ein wirkungsvoller Schuß vor den Bug sein. Als der Boxer Rico (Julius Nitschkoff) sich zuletzt selbst der Polizei stellt, muntert der Freund ihn auf: „Das Beste kommt noch!“ Den letzten Satz spricht dann der Taxifahrer: „Wo soll’s denn hingehen?“

Dresens Sympathie ist bei seinen Protagonisten, die ihren Weg finden werden. In einem Interview hat er nicht ausgeschlossen, daß sie heute möglicherweise bei einer Pegida-Demo anzutreffen wären: „… diese Leute sehen den Zustand der Welt, der weiß Gott nicht der beste ist. Es wimmelt an allen Ecken von scheinbar unlösbaren Problemen. Sie kriegen Angst: Angst vor Veränderung, Angst, daß das, was sie sich aufgebaut haben, kaputtgeht. Diese Ängste muß man versuchen zu verstehen.“

Kinostart: 26. Februar 2015 www.alswirtraeumten.de

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