© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Was Pegida gebracht hat
Die Tabus bröckeln
Peter Kuntze

Auch wenn das Pegida-Projekt demnächst an sein Ende kommt, so ist doch der Geist des öffentlich artikulierten Widerspruchs aus der Flasche. Wer in den sechziger, siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik Aufstieg und Entwicklung der Studentenbewegung passiv oder aktiv miterlebt hat, dürfte angesichts der Dresdner Demonstrationen auf manche Parallele gestoßen sein. So lassen sich jenseits der ideologischen Ausrichtung Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Ziels feststellen, die Meinungsmacht der Herrschenden zu brechen; auch ähneln sich die Reaktionen des jeweiligen politisch-medialen Establishments auf die unerhörte, weil bis dato unbekannte Herausforderung.

Ausgangspunkt der Studentenproteste waren seinerzeit die antikolonialen Freiheitsbestrebungen in der Dritten Welt, vornehmlich der Vietnamkrieg. Nach der Niederlage Frankreichs waren die USA in die Fußstapfen der einstigen Pariser Kolonialherren getreten, weil sie befürchteten, weitere Staaten Südostasiens könnten jetzt wie Dominosteine kippen und dem internationalen Kommunismus anheimfallen. Auf dem Höhepunkt des Krieges kämpften 500.000 GIs an der Seite des mit ihnen verbündeten südvietnamesischen Marionettenregimes gegen die Vietcong. Dabei machten sie sich so abstoßender Taten wie des Massakers von My Lai schuldig, so daß im Westen, besonders in den USA selbst, die moralischen Zweifel an dem ohnehin umstrittenen Einsatz immer stärker wurden.

Nur die Bundesrepublik hielt damals unverdrossen an ihrer transatlantischen Vasallenrolle fest, von der sie sich bis heute nicht gelöst hat. Das Credo der Bonner Regierung lautete, die Freiheit auch West-Berlins, das ein Brennpunkt der Proteste war, werde nicht zuletzt in Vietnam verteidigt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz ließ damals mit gewerkschaftlicher Hilfe Großdemonstrationen veranstalten, auf denen er mit Aussprüchen wie „Seht euch diese Typen an!“ Stimmung gegen die langmähnigen und bewußt unbürgerlich gekleideten Studenten machte, die vielerorts aufgefordert wurden, doch „nach drüben“, also in die DDR, zu gehen. An der Agitation gegen die „kleine radikale Minderheit“ beteiligten sich an vorderster Front die Blätter des Springer-Verlages, die alsbald als „Lügenpresse“ ins Visier der Parteigänger der Achtundsechziger gerieten. An mehreren Druckorten versuchten sie daher, die Auslieferung der Welt und der Bild-Zeitung zu verhindern – häufig auch mit Gewalt.

Wie heute nach rechts, war seinerzeit das Meinungsspektrum nach links extrem eingeschränkt. Die entsprechenden Parolen der Regierenden lauteten: „Wir gewähren Freiheit der Meinung nur allen Gutgesinnten“ (Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, 1969) sowie „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ (Bundesinnenminister Werner Maihofer, 1975).

Nicht anders erging es Jahrzehnte später den Pegida-Anhängern, die im Oktober 2014 ihren ersten „Abendspaziergang“ durch Dresden absolvierten. Sowohl die öffentlich-rechtlichen Anstalten als auch die privaten Presseorgane, angeführt von „Qualitätsmedien“ wie Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Welt, Zeit und FAZ, schütteten wochenlang kübelweise Häme, Hetze und Haß über die Demonstranten aus, während Politiker sämtlicher im Bundestag vertretenen Parteien die Pegidisten wahlweise als „Nazis in Nadelstreifen“, „Mischpoke“ oder als „Schande für Deutschland“ titulierten. Kein Wunder, daß die Dresdner angesichts dieser Erfahrungen lange Zeit jedes Gespräch mit der „Lügenpresse“ hartnäckig verweigerten.

Daß einseitige Berichterstattung, die die Wirklichkeit verfälscht, keine Ausnahmeerscheinung ist, mußte Bernd Ulrich, Vize-Chefredakteur der Zeit, bereits vor vier Jahren einräumen. Im Dezember 2010 schrieb er einen Artikel unter der Rubrik „Was ist bloß los mit uns?“ – „Ob Sarrazin-Debatte, Mißbrauchsskandale oder WikiLeaks: Die Fehler und Versuchungen des Journalismus traten noch nie so offen zutage wie in diesem Jahr“. Als Beispiel nannte er den Mißbrauchsskandal an der Odenwald-Schule. Zwar sei der Fall schon vor zehn Jahren publik geworden, doch die liberalen Blätter hätten sich zurückgehalten, um der Reformpädagogik nicht zu schaden; dies sei ein „politisch motivierter Cui-bono-Journalismus“ gewesen. Als noch gravierender stufte er den Fall Sarrazin ein: Da in den meisten Redaktionen keine Migranten arbeiteten, sei die Kenntnis über deren Lebenswelt oft durch „Correctness“ zugunsten der Ausländer ersetzt worden.

Als in Hochschulen und Medien die letzten von Konservativen gehaltenen Bastionen erobert waren, schritt – mit Ausnahme der Wirtschaft – die Revolutionierung aller Bereiche der Gesellschaft zügig voran. Das Ergebnis ist so grund-legend wie bestürzend.

Dieses ehrliche Eingeständnis war freilich vier Jahre später längst vergessen, und die Journaille zeigte sich unisono empört über die Abqualifizierung als „Lügenpresse“, mit der sie schon vor Jahrzehnten etikettiert worden war. Nur Thomas Kirchner von der Süddeutschen Zeitung ließ ein spätes „Mea culpa“ erklingen: Unter der Überschrift „Willkommen in der Realität“ analysierte er Anfang Februar, „warum AfD und Pegida kein bloßer Spuk sind“. Auch wenn er das Versagen vornehmlich bei den Politikern sah, so galt seine Kritik doch auch dem eigenen Berufsstand, wenn manche Probleme wie die fehlerhafte Einwanderungspolitik ignoriert oder unter den Teppich gekehrt würden. Was nicht helfe, sei „jene Arroganz, wie sie in der Häme über Luckes braune Tischdecken und Butterstullen zutage tritt oder in manchen Äußerungen zu Pegida“.

Hätte sich mit dem Ende des Vietnamkrieges die Protestbewegung in der alten Bundesrepublik erschöpft, wären die Achtundsechziger längst Geschichte und vergessen. Doch für ihre Protagonisten um Rudi Dutschke war Vietnam lediglich der Anlaß gewesen, für ihr wahres Ziel zu kämpfen: den Systemwechsel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Damals hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aus dem amerikanischen Exil heimgekehrte Vordenker der Frankfurter Schule, im Verein mit Jürgen Habermas, Herbert Marcuse und Ernst Bloch einen undogmatischen Marxismus entwickelt, der in der Studentenbewegung auf fruchtbaren Boden fiel. Hauptthesen waren Horkheimers Diktum, wer vom Faschismus rede, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen, sowie Marcuses und Wilhelm Reichs Behauptung, die patriarchalisch-bürgerliche Familie sei Geburts- und Brutstätte des „autoritären Charakters“, der die entscheidende Grundlage des Faschismus bilde.

Mit Hilfe dieser Theorien entwickelte sich im Zuge des von Dutschke proklamierten langen „Marsches durch die Institutionen“ eine antikapitalistische und antibürgerliche Phalanx, die auf die Kommandozentralen im ideologischen Überbau zielte. Als in Hochschulen und Medien die letzten von Konservativen gehaltenen Bastionen erobert waren, schritt – mit Ausnahme der Wirtschaft – die Revolutionierung aller Bereiche der Gesellschaft zügig voran. Das Ergebnis war und ist so grundlegend wie bestürzend, weil die linksgrüne Diskurshoheit mittlerweile durch die oben von Bernd Ulrich beschriebene, an Orwells Dystopie gemahnende „Political Correctness“ auch sprachlich abgesichert ist, so daß jede abweichende Meinung als „rechtsextremistisch“ denunziert, wenn nicht gar kriminalisiert wird:

Ob der von Dresden ausgegangene Impuls zur Revidierung fataler Fehlentscheidungen führen wird, ist offen. Immerhin aber ist es den Montagsdemonstranten gelungen, innerhalb kürzester Zeit das linksgrüne Meinungsmonopol zu sprengen.

l Familie, Volk, nationale Souveränität, deutsche Geschichte und deutsche Leitkultur, die einer rigorosen „Dekonstruktion“ unterzogen wurden, haben längst ihre staatstragenden Funktionen verloren. Aus dem „deutschen Volk“, laut Grundgesetz der nominelle Souverän des Landes, ist durch massive und weitgehend ungesteuerte Zuwanderung eine multiethnische und multikulturelle „Bevölkerung“ geworden. In vielen Großstädten haben sich Parallelgesellschaften entwickelt, in denen der Staat seine Hoheitsrechte aufgegeben hat.

l Aus der Hartwährung DM wurde durch Bruch der Maastricht-Kriterien und die zunehmende Vergemeinschaftung der Finanzpolitik die Weichwährung Euro, die zur Enteignung deutscher Sparer führt.

l Das Schengen-Abkommen hat besonders an den Ostgrenzen der neuen Bundesländer seit 2007 die Kriminalität so exorbitant ansteigen lassen, daß nachts Bürgerwehren auf Streife gehen, weil der eigene Staat das Eigentum seiner Bürger nicht mehr schützen kann.

l Relativismus, Gleichmacherei und eine ideologisch motivierte Antidiskriminierung bis hin zur Inklusion auch geistig Behinderter in Klassen mit normal entwickelten Schülern haben das einst vorbildliche deutsche Bildungswesen an den Rand der Katastrophe geführt.

l Im Justizbereich ist infolge der einseitigen Betonung des Resozialisierungsgedankens der Opferschutz zum Täterschutz mutiert.

l Die von Homosexuellen-Verbänden und einem extremen Feminismus propagierte Gender-Ideologie hat die bislang nur heterosexuellen Paaren vorbehaltene Ehe sowie das Adoptionsrecht auch für sexuelle Minderheiten geöffnet. In rot-grün regierten Bundesländern steht mittlerweile schon für Grundschüler die Frühsexualisierung auf dem Unterrichtsplan.

Diese aus Westdeutschland zwangsweise importierten Entwicklungen haben bei vielen Bürgern in den neuen Ländern nicht nur Mißtrauen und Enttäuschung, sondern blankes Entsetzen ausgelöst. Schließlich hatten sich die meisten von der Wiedervereinigung ein souveränes, freies, demokratisches und prosperierendes Gesamtdeutschland erhofft. Daß die Proteste zuerst in Dresden öffentlich artikuliert wurden, kann dabei nicht verwundern: Im Gegensatz etwa zum proletarisch geprägten Leipzig hatte in Dresden ein selbstbewußtes Bildungsbürgertum selbst der Indoktrinierung durch die SED-Diktatur die Stirn geboten, wie nicht zuletzt aus Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ hervorgeht.

Hatten die Achtundsechziger vor Jahrzehnten die Machtfrage von links aufgeworfen, so stellte die Pegida-Bewegung erstmals seit der Wiedervereinigung die Machtfrage von rechts – noch dazu auf der Straße, was die politisch-mediale Klasse sofort in Panik versetzte. Ob der von Dresden ausgegangene Impuls zur Revidierung fataler Fehlentscheidungen führen wird, ist offen. Immerhin aber ist es den Montagsdemonstranten gelungen, innerhalb kürzester Zeit das linksgrüne Meinungsmonopol zu sprengen und viele Tabus zu Fall zu bringen. So thematisieren plötzlich Politik und Medien,

l daß der Koran, mithin der Islam, die entscheidende Quelle des Islamismus ist;

l daß Deutschland nach dem Muster Kanadas ein Einwanderungsgesetz braucht, das nur solche Immigranten ins Land läßt, die ihm nützlich sind und nicht die staatlichen Sozialkassen belasten;

l daß jene zwei Drittel der Asylbewerber, deren Gesuch in der Regel unbegründet ist, im Prinzip wieder abgeschoben werden sollen;

l daß Parallelgesellschaften ein maßgebliches Integrationshindernis sind und nicht mehr geduldet werden dürfen;

l daß an den deutschen Ostgrenzen die Polizeipräsenz erhöht werden muß, um die Kriminalität erfolgreich bekämpfen zu können.

Gewiß, dies alles sind nur Anfänge und ist keine grundlegende Trendwende der einstigen Kulturrevolution. Doch ein chinesisches Sprichwort sagt: „Ein Weg von 10.000 Li beginnt mit dem ersten Schritt.“ Vielleicht gelingt es ja der AfD wie einst der SPD Willy Brandts, die kritischen Geister in ihre Reihen aufzunehmen, die dann nach dem Vorbild der Achtundsechziger den „Marsch durch die Institutionen“ antreten – diesmal aber, als wahre Alternative für dieses Land, in die andere Richtung.

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über 2014 als Wendejahr der deutschen Geschichtspolitik („Aus dem Schatten treten“, JF 9/14).

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Fernsehstilleben“ (Holzschnitt, 1967): Von der Flimmerkiste weg ins Freie

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