© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Noch bleibt Zeit für den Widerstand der Straße
Der Altlinke Wolfgang Streeck sieht im Nationalstaat die demokratische Alternative zur EU
Dirk Glaser

Wäre die Europäische Kommission eine deutsche politische Partei, so müßte sie als verfassungsfeindliche Organisation umgehend verboten werden. Keinen anderen Schluß erlaubt die bestechende Argumentation, die der Soziologe Wolfgang Streeck in seiner Streitschrift über „Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ entfaltet und die aufzeigt, wie die EU als „Liberalisierungsmaschine“ auf den „demokratiefreien Einheitsmarktstaat“ zusteuert.

Streeck löste mit seinem provokanten Werk (JF 29/13), das bald nach Erscheinen 2013 drei Auflagen erlebte, eine Debatte aus, die bis heute anhält und die aufgrund der jüngsten Konvulsionen in Griechenland neuen Auftrieb bekommen dürfte. Dieses starke Echo erklärt sich auch daraus, daß Streeck, der im November 2014 als Geschäftsführender Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in den Ruhestand ging, nicht als leicht zu stigmatisierender Außenseiter gilt. Vielmehr scheint er fest im akademischen Establishment zu wurzeln, das gerade in Deutschland der fatalen Utopie anhängt, ein europäischer „Superstaat“ werde die „postnationale Demokratie“ verwirklichen. Grund zum Argwohn gab es um so weniger, als Streeck seine harte EU-Kritik zuerst 2012 während der kaum als Podium für Nonkonformisten bekannten Frankfurter „Adorno-Vorlesungen“ vortrug und sie anschließend im Suhrkamp Verlag veröffentlichte.

Habermas warnt vor „Nationalstaatsnostalgiker“

Erst die so prompte wie wütende Reaktion des Gralshüters der „suhrkamp culture“, Jürgen Habermas, „entlarvte“ den rechten Sozialdemokraten Streeck als Wolf im Schafspelz, als einen vom linksliberalen Zeitgeist erheblich abweichenden „Nationalstaatsnostalgiker“.Tatsächlich tritt Streeck für den Rückbau der EU zugunsten der Nationalstaaten ein. Denn nur der souveräne Nationalstaat garantiere Demokratie und demokratische Entwicklungschancen.

Zugleich sei die Währungsunion aufzulösen, und an ihre Stelle träte dann die bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein erfolgreiche „lockere Koppelung“ nationaler Währungen. Der Euro bräuchte dabei nicht einmal abgeschafft zu werden, sondern könne nebenher als Leit- und Ankerwährung dienen. Ein derartiger Ausbruch aus der „babylonischen Gefangenschaft“ eines von „Eurofanatikern“ von allen staatlichen Fesseln befreiten Marktregimes käme dem Einstieg in die Politik der Grenzziehung gegenüber der Globalisierung gleich.

Wer eine Globalisierung ablehne, die die Welt einem einheitlichen, Konvergenz erzwingenden Marktgesetz unterwerfe, könne nicht am Euro festhalten. Denn im Rückblick erscheine diese Kunstwährung deutlich als „Geschöpf der Globalisierungseuphorie“ der 1990er, als staatliche Handlungsfähigkeit nicht zählte und die Prediger des Neoliberalismus suggerierten, gesellschaftliche Demokratie komme ohne staatliche Souveränität aus.

Diesem Kinderglauben huldige auch heute noch der penetrant über das „Elend nationalstaatlicher Fragmentierung“ jammernde Jürgen Habermas, der die Bändigung der Märkte folglich nicht von den Nationen, sondern von einer supranationalen Zivilgesellschaft erwartet („Demokratie oder Kapitalismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2013). Da aber „schlicht nicht zu erkennen ist, woher die demokratischen Kräfte für eine Umgestaltung der EU kommen könnten“, wie die Politologen Thomas Biebricher und Frieder Vogelmann realistisch einwenden (Politische Vierteljahresschrift, 1/2014), steht Streeck nicht an, in Habermas, der mit illusionären Konzepten hantiere, den nützlichen Idioten zu sehen, der jenen gemeingefährlichen „Sozialingenieuren eines selbstregulierenden globalen Marktkapitalismus“ in die Hände arbeite, die in der Finanzkrise von 2008 einen Vorgeschmack dessen geboten hätten, „was sie anzurichten vermögen“.

Noch bleibe Zeit, Institutionen wie die nationalen Parlamente als „Bremsklötze“ auf der abschüssigen Bahn in den entdemokratisierten „europäischen Konsolidierungsstaat“ zu nutzen. Und nicht zu spät sei es für den „zu erhoffenden Widerstand der Straße“, der sich organisieren müsse gegen die einem Staatsstreich von oben gleichende, schleichende Abschaffung demokratisch legitimierter Souveränität. Es gehe jetzt darum, „die verbliebenen Reste des Nationalstaats so weit provisorisch instand zu setzen, daß sie zur Entschleunigung der rasch voranschreitenden kapitalistischen Landnahme genutzt werden können“.

Von Grünen und Sozialdemokraten erwartet Streeck bei diesem Versuch, einem rollenden Rad in die Speichen zu greifen, übrigens herzlich wenig. Hätten sie für ihre unerschütterliche Unterstützung der EU-Krisenpolitik in Griechenland als Gegenleistung doch nicht einmal gefordert, die von den Brüsseler „Rettern“ sorgsam geschonten Reichen heranziehen und etwa die Steuerbefreiung für Reedereien aufzuheben, die Kapitalflucht zu unterbinden oder eine „Ausstiegssteuer“ für vermögende Auswanderer zu verhängen.

www.blaetter.de

www.pvs.nomos.de

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, gebunden, 271 Seiten, 24,95 Euro

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