© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

TiSA – die neue Zeitbombe
Internationaler Handel mit Dienstleistungen: Während Experten geheim verhandeln, fürchten Kritiker eine Erosion von Qualität, Demokratie und Sozialstaat
Dirk Fischer

Während TTIP, also das geplante transatlantische Freihandelsabkommen „Transatlantic Trade and Investment Partnership”, in der öffentlichen Diskussion längst ein Begriff ist, spricht kaum jemand von TiSA.

Damit ist das angestrebte internationale Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen „Trade in Service Agreement” gemeint. Seit 2013 verhandelt auf Anregung der USA und Australiens eine Gruppe von 23 Mitgliedern der Welthandelsorganisation WTO in Genf über die Liberalisierung des Dienstleistungssektors. Diese Gruppe nennt sich selbst „Really Good Friends of Liberalization of Trade in Services“ (RGF) und steht für 70 Prozent des weltweiten Handels dieser Branche.

Dazu gehören neben den beiden Genannten unter anderem noch die EU, Schweiz, Türkei, Kanada, Mexiko, Japan und Südkorea. Auffällig ist, daß bisher weder Brasilien, noch Rußland, Indien oder China dabei sind. Angeblich scheitert die Aufnahme Chinas am Veto der USA und Japans. Die EU-Kommission macht dagegen keinen Hehl daraus, daß sie China gern als Teilnehmer bei den TiSA-Verhandlungen dabei hätte. Brüssels Strategie zielt darauf ab, die Ausarbeitung des Abkommens unter größtmöglicher Beteiligung zu bewerkstelligen.

Stillhalteklausel soll Erfolg des Projekts garantieren

Diese „Wirklich guten Freude“ kamen zusammen, nachdem die Welthandelsorganisation 2011 erklären mußte, daß die Verhandlungen festgefahren waren. Zwar gab es einige Fortschritte bei der Marktöffnung im Servicesektor, aber nach den Regeln der WTO muß Einigung über das gesamte Paket erzielt werden. Deshalb wollten die RGF den Freihandel bei Dienstleistungen losgelöst von den offiziellen Kanälen der Welthandelsorganisation auf dem sogenannten plurilateralen Weg lösen. Nach dem Willen dieser Ländergruppe soll TiSA aber das seit 1995 bestehende WTO-Abkommen „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) irgendwann ablösen, wenn sich nur genug andere WTO-Mitglieder anschließen. Es geht im Kern um die Beseitigung von Handelshemmnissen und vor allem staatlichen Monopolen sowie dasVorantreiben der Privatisierung auf den nationalen Dienstleistungsmärkten.

Dabei gelten die schon von GATS bekannten Prinzipien der Inländerbehandlung. Das heißt, ausländische Anbieter dürfen nicht schlechter behandelt werden als inländische. Zudem müssen Vorteile, die einem Land als Vertragspartner gewährt werden, allen Partnern zugestanden werden. Die Verhandlungsfortschritte sollen durch eine Stillhalteklausel abgesichert werden. Diese bedeutet, daß ein einmal erreichtes Niveau der Privatisierung für alle Staaten verbindlich bleibt. Dazu gibt es eine „Sperrklinkenklausel“: Änderungen des gesetzlichen Rahmens dürfen nur zu mehr, nicht zu weniger Vertragskonformität im Sinne von TiSA führen. Damit soll das Aufkommen neuer öffentlicher Dienste verhindert werden.

Protektionismus gilt als Hauptfeind schlechthin

Die bisherigen GATS-Runden kamen auch deshalb nicht voran, weil jedes Land die Dienstleistungen, für die Marktzugang gewährt werden sollte, selbst auswählen und in die Verhandlungen einbringen konnte. Bei Fragen des Marktzugangs wird bei den TiSA-Gesprächen weiterhin über Positivlisten verhandelt. Um aber der Tatsache gerecht zu werden, daß laufend neue Dienstleistungen entstehen, sind in Fragen der Inländerbehandlung und der Meistbegünstigung grundsätzlich bloß der Luftverkehr und öffentliche Dienste, die nur vom Staat erbracht werden können, wie innere Sicherheit und Verteidigung, ausgeschlossen. Bereiche, die ausgeklammert werden sollen, müssen von den Verhandlungspartnern explizit in Negativlisten benannt werden. Dieser sogenannte „hybride Verpflichtungsansatz“ ist wohl auch die Ursache dafür, daß Befürworter und Kritiker ganz unterschiedlicher Auffassung über die tatsächlich von TiSA betroffenen Sektoren sind.

Da die Dienstleistungsbranche – von Finanzen über Verkehr und Gesundheit bis hin zu Logistik, Bildung und Rechtsberatung – immer bedeutender wird, erhoffen sich die Beteiligten durch die Liberalisierung Impulse für Wachstum und Beschäftigung. In den USA erbringt der Service-Sektor 75 Prozent der Wirtschaftsleistung und sichert 80 Prozent der Jobs in der Privatwirtschaft. In der Europäischen Union (EU) umfaßt der Bereich fast 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und der Beschäftigung. Die USA rechnen auf Dauer mit zusätzlichen Exporten im Wert von 600 Milliarden Dollar. Durch die vertraglichen Bindungen soll Protektionismus der nationalen Regierungen verhindert werden. Oft genug dienen vermeintlich am Gemeinwohl orientierte Begründungen den stimmenmaximierenden Politikern dazu, in Wirklichkeit bloß die Interessen der Produzenten im vom Wettbewerb gefährdeten Sektor zu bedienen.

Kritisiert wird vor allem, daß die Verhandlungen nicht öffentlich geführt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium beschwichtigt, man informiere in regelmäßigen Gesprächen mit Vertretern der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft über die laufenden TiSA-Verhandlungen. Die EU-Kommission will Ende 2015 ihr Verhandlungsmandat veröffentlichen und veranstaltet außerdem sogenannte „Civil Society Dialogues“, in denen sie über die Fortschritte der Verhandlungen berichtet.

Trotz der intransparenten Verhandlungen und der selektiven Informatonspolitik sind einige Inhalte bekanntgeworden. Erstmals veröffentlichte Wikileaks Ende Juni 2014 den Verhandlungsstand über die Deregulierung des globalen Marktes für Finanzdienstleistungen zum Vorteil internationaler Finanzkonzerne. Das Dokument sollte eigentlich erst fünf Jahre nach Abschluß des Abkommens veröffentlicht werden.

Zu den Restriktionen, die zusätzlich beseitigt oder von vornherein verhindert werden sollen, gehören Größenbegrenzungen für Finanzinstitute, Einschränkungen der Geschäfte, die Banken ausüben dürfen, Beschränkungen beim Geldtransfer, staatliche Monopole, Offenlegungspflichten bei Geschäften in Steueroasen oder Kapitalverkehrskontrollen zur Begrenzung des Zuflusses von Spekulationskapital.

Offenbar wollen vor allem die Vereinigten Staaten mit TiSA zudem erreichen, daß Banken und Versicherungen die Daten ihrer Kunden grenzüberschreitend austauschen können. Der staatliche Datenschutz würde dadurch unterlaufen, so die neuseeländische Juristin Jane Kelsey damals in einer ersten Analyse.

Erst Wikileaks brachte Kritik ins Rollen

Zum Beispiel könnten Kontendaten von europäischen Bürgern und Unternehmen abfließen und der US-Regierung und den Geheimdiensten zur Verfügung stehen. Die Regulierung der Finanzmärkte würde erschwert und Länder könnten im Gegenteil dazu gezwungen werden, Finanzmarktprodukte zu erlauben, wie sie schon die Finanzkrise ausgelöst hatten.

Sorgen bereitet auch die Privatisierung und Deregulierung bisher von öffentlichen Anbietern getragener Dienste weitgehend frei zugänglicher Daseinsvorsorge. Dazu zählen zum Beispiel das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung. Kritiker befürchten hier eine Erosion von Qualität, Sozialstaatlichkeit und Demokratie.

So ist in einem „geleakten“ Dokument von einem großen Potential bei Gesundheitsdiensten die Rede, die bisher nur vom Staat oder sozialen Organisationen angeboten werden. Hier drohe ein grenzüberschreitender Gesundheitstourismus. In der Vergangenheit führten Privatisierungen oft dazu, daß die Leistungen nicht besser, aber teurer wurden.

Dennoch betonen Vertreter der Europäischen Union und des Bundeswirtschaftsministeriums, daß Fragen des Datenschutzes und der öffentlichen Daseinsvorsorge (Wasser, Gesundheit, Bildung) nicht Gegenstand der Verhandlungen seien. „Länder, die sich Freihandelsabkommen anschließen, können öffentliche Monopole aufrechterhalten und öffentliche Dienste regulieren, wenn sie dies für angemessen halten“, heißt es bei der EU-Kommission. Sie schließt daher die öffentliche Gesundheitsvorsorge, soziale Dienstleistungen, staatlich finanzierte Bildung, Wasserversorgung sowie Film, Fernsehen und Radio von den Gesprächen aus.

Bei der jüngsten Verhandlungsrunde Anfang Februar fand sich dann auch erstmals ein Grüppchen Demonstranten vor der australischen Botschaft in Genf zusammen. „Sie werden 2015 viel über das Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen hören“, so die zuständige EU-Parlamentarierin Viviane Reding, ehemalige EU-Kommissarin. Im Herbst wolle das Parlament einen Bericht veröffentlichen, nachdem man die Interessengruppen konsultiert habe. „TiSA ist eine Chance, Europa wettbewerbsfähiger und produktiver zu machen“, so Reding weiter. EU-Standards und -Interessen sollen aber verteidigt werden. Merkwürdig nur, daß sie im November 2014 noch vor der Bedrohung europäischer Verbraucherrechte durch TiSA warnte: Hier ticke eine Zeitbombe, nur habe das noch niemand bemerkt.

Foto: Große Geheimnisse, viel Geld, wenig Transparenz: Laut EU-Kommission bietet TiSA die große Chance, die Europäische Union noch „wettbewerbsfähiger und produktiver zu machen“

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