© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Pankraz,
Wolfgang Defort und das Kirchenasyl

Wer darf in Deutschland Recht sprechen, die Justiz, also die dritte Säule des Rechtsstaates neben Legislative und Exekutive – oder die Pfaffen? Darüber redet man zur Zeit in der Berliner Politik, seitdem die beiden großen Kirchen, Katholiken und Protestanten, ein eigenes Asylrecht postuliert haben und auch schon fleißig exekutieren, das sogenannte Kirchenasyl. Asylbewerber, die von den staatlichen Behörden nach geltendem Recht (inklusive EU-Recht) abgeschoben werden sollen, werden von den Kirchen „unter den Schutz der Gemeinde“ gestellt. Und die staatliche Exekutive läßt sie gewähren.

Innenminister de Maizière und das ihm unterstehende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben erklärt, sie würden das Treiben der Kirchenasyler nicht behindern, „zumindest bis zum kommenden Herbst nicht“. Sie seien grundsätzlich bereit, „die Tradition des Kirchenasyls an sich nicht in Frage zu stellen“. Die Kirchen ihrerseits erklärten im Gegenzug, „daß das Kirchenasyl nur eine Ultima ratio angesichts besonderer menschlicher Härten ist“, machten aber klar, daß allein sie, die Kirchen, über das Fälligwerden dieser Ultima ratio entscheiden.

Damit ist der Fehdehandschuh eindeutig in die Arena geworfen. Die Kirchen beanspruchen gegenüber der Justiz eine eigene Rechtsprechung, und sie berufen sich dabei auf bis in graue Vorzeiten reichende Traditionen, auf die „hikesia“, wie die alte Griechen sagten, auf das Recht von Schutzsuchenden („hiketes“ = die Ankommenden), sich auf der Flucht vor Diktatoren, wütenden Volksmassen oder auch vorschneller Justiz zunächst einmal in heiligen Tempeln oder sonstigen Heiligtümern zu bergen und dort den weiteren Lauf der Dinge abzuwarten.

Von Anfang an und immer wieder hat es bohrende Diskussionen um die moralische und soziale Zulässigkeit der Hikesie gegeben. Staaten wie das augusteische Rom, die stolz waren auf ihr ausgedehntes und gut funktionierendes Rechtssystem, fühlten sich durch sie beleidigt und suchten sie einzudämmen. Es kamen dann freilich immer wieder unsichere, gewalttätige Zeiten, wo die behördliche Justiz regelrecht zusammenbrach oder gänzlich im Sumpf der Korruption versank, und dann war man überwiegend froh darüber, daß es die Kirchen gab, deren heilige Autorität einen zunächst einmal schützte.

Mit Anbruch der europäische Neuzeit allerdings mit ihren überall sich verfestigenden Staaten, welche Gewalthoheit einforderten und auch durchsetzten, verblich jeglicher Glanz von Hikesie und Kirchenasyl. Für Nachdenker wie Machiavelli oder Voltaire war der positive Gebrauch dieser Begriffe geradezu Ausweis von staatspolitischem Verbrechertum, frecher Anmaßung und obskurantischer Parallelpolitik. Die Gesellschaft reagierte entsprechend. Bis Mitte des 19. Jahrhundert war das Kirchenasyl in sämtlichen europäischen Staaten formell aufgehoben.

Die Kirchen ihrerseits haben sich nie damit abgefunden. Noch im bis heute gültigen „Codex Iuris Canonici“ des Vatikans von 1917 hieß es: „In jedem Kirchengebäude gilt Asylrecht, so daß Angeklagte, die in ihm Zuflucht suchen, nicht ohne Zustimmung des Pfarrers oder wenigstens des Kirchenrektors aus ihm herausgezerrt werden dürfen, wenn es nicht die Notwendigkeit erfordert.“ In den Rechtsordnungen der evangelischen Kirchen wurde ein eigenes Asylrecht nie extra kodifiziert, aber auch bei ihnen dachte man ganz im Sinne jenes Codex von 1917 – einschließlich des fatalen Zusatzes über die „Notwendigkeit“.

Im Jahre 1975 passierte in der damaligen DDR folgendes: Dem Polithäftling Wolfgang Defort, der wegen „Boykotthetze“ einsaß, gelang unter abenteuerlichen Umständen die Flucht aus dem Zuchthaus Cottbus, und er suchte erste Zuflucht und Versteck in einer evangelischen Dorfkirche in der Lausitz. Der Pfarrer nahm ihn zunächst auf, speiste ihn und ließ ihn verschnaufen. Doch dann – nach einem Gespräch mit einem Pfarrerkollegen und einem Telefonanruf bei der übergeordneten Kirchenleitung – lieferte er ihn an die Stasi aus.

Häftling Defort wanderte wieder ins Zuchthaus und kam in „verschärfte Haft“. Um mit dem Codex von 1917 zu sprechen: „Die Notwendigkeit erforderte es.“ Die Stasi, so hieß es später, sei ohnehin schon längst auf der richtigen Spur gewesen und hätte nichts dabei gefunden, mit brachialer Gewalt in das Kirchengebäude einzudringen. Die Kirche wollte es sich nicht mit dem regierenden Staat verderben, und dieser Staat war kein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz, sondern eine wüste Parteidiktatur, die nicht einmal die schützende Heiligkeit sakraler Örtlichkeiten respektierte. Da konnte man halt nichts machen.

Pankraz fragt sich hier nicht ohne Sarkasmus: Was ist ein Kirchenasyl wert, wenn es „aus Notwendigkeit“ nur gegen akkurate Rechtsstaaten ins Feld geführt werden kann? Verglichen mit dem Schicksal des Häftlings Defort ist ja das Schicksal heute in Deutschland „Ankommender“ das reinste Zuckerlecken.Es sind etwa Flüchtlinge aus Eritrea, die dem sozialen Elend zu Hause entkommen wollen und per Schleuserboot über das Mittelmeer nach Italien kommen. Dort müßten sie sich laut Dubliner Abkommen registrieren und ihren Flüchtlingsstatus offiziell klären lassen.

Stattdessen wandern sie – illegal – sofort nach Deutschland weiter und stellen dort einen Asylantrag. Und wenn der von den Behörden – streng nach Gesetz – abgelehnt oder mit Bedingungen verknüpft wird, rufen unsere Kirchen gleich die Ultima ratio an und beginnen, die hiesigen Entscheidungskräfte bei den Medien als unchristliche, hartherzige Bürokraten anzuschwärzen. Man faßt es kaum.

Schließlich geht es hier um viel mehr als um einen bloßen Streit der Worte. Die Flüchtlingsströme sind bekanntlich riesig, sie bedrohen die nationale Existenz. Es geht buchstäblich um den Fortbestand Deutschlands als Rechtsstaat und Hort einer freien Justiz.

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