© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Wenn das Schicksal in die Routine einbricht
Eine Emigration aus Labenbrod: Jörg Bernig hat einen lesenswerten Nachwende-Roman geschrieben
Sebastian Hennig

Von Ingo Schulze bis Lutz Seiler hat sich ein ganzer Zweig der Belletristik an der verklärenden Erklärung der DDR abgearbeitet. Den bevorzugten Zeitraum für die Darstellung bilden die zehn Jahre, deren Mitte die Ereignisse von 1989 markieren. Drum herum ist eine ebenso heimlich vergangenheitsverklärende, wie verstohlen den Status quo stabilisierende Literatur entstanden. Ihren Höhepunkt erreichte diese Richtung 2008 mit Uwe Tellkamps Darstellung des Dresdens der achtziger Jahre. Zum Fernseh-Zweiteiler transformiert und in verschiedenen Dramenfassungen wurde „Der Turm“ dem spätbundesrepublikanischen „Juste milieu“ als eine Art Kubinsche Traumstadt „Perle“ offeriert. Sogar manche, die es damals vor Ort direkt betroffen hatte, fühlten sich von solcher Entrückung ein wenig geschmeichelt.

In der retrospektiven Deutung und Überformung von als historisch geltenden Ereignissen betätigt sich der Autor letztlich nur als Konsument und Kolporteur. Am ehesten ist es der Feinfühligkeit eines Literaten angemessen, Verwerfungen vorab zu wittern und das gewiß eintretende Ungestaltete in Stimmungsbildern vorzukünden. Welche Stimmung sich nämlich in den fünfundzwanzig Folgejahren vornehmlich und erst einmal in Mitteldeutschland verdichtete, war dagegen kaum je Gegenstand der Literatur. Seit einiger Zeit beginnt sich diese Frage nun als Gestalt nicht nur in Dresden friedlich insistierend auf den Straßen zu offenbaren.

Im Herbst 2014 ist Jörg Bernigs Roman „Anders“ erschienen. Während Tellkamp den aus der Zeit gefallenen Saum Dresdens schildert, schafft Bernig mit seinem dem nahe gelegenen Radebeul nachempfundenen Labenbrod ein geographisches und atmosphärisches Gegenüber. Der Ortsname bedeutet in der slawischen Sprache Elbfurt. Der 1964 im sächsischen Wurzen geborene Erzähler und Lyriker findet den Schlüssel zu den Geheimnissen des menschlichen Seins im Naheliegenden und selbst Erlebten.

Jörg Bernigs literarisches Werk ist hier entstanden. Das sind drei Gedichtbücher, vier Romane und ein Essayband. Die landschaftlichen und kulturhistorischen Beziehungen von Radebeul, aber auch ganz beiläufige Beobachtungen auf den Wiesen und Mauern von Kötzschenbroda, speisen manche seiner Gedichtzeilen. Vor sechs Jahren hat Jörg Bernig die Veranstaltungsreihe „Lesen in Kötzschenbroda“ angeregt und lange Zeit selbst moderiert. Berühmte Autoren wie Reiner Kunze, Bernhard Schlink, Barbara von Wulffen oder Ulrich Schacht waren im Luthersaal in der Friedenskirchgemeinde in Kötzschenbroda zu Gast.

Im letzten Roman „Weder Ebbe noch Flut“ (2007) schrieb Bernig über Karl Mays Leben in „einem Elbnest unter sächsischen Weinbergen und keine Stunde von Böhmen, von Schlesien entfernt, so abgelegen, so randlägerig und aus der Welt. Was wollte einer da schon tun, als zu erfinden, da an diesem nördlichsten Punkt eines sehr fernen Südens ...“

Die Kinder haben das elterliche Haus verlassen

Karl May hat bekanntermaßen aus dem Fernliegenden und Unerlebten eine eigene Welt erfunden. Jörg Bernig verwendet nun die Topographie und das Milieu seiner unmittelbaren Umgebung. Nacherfunden als Labenbrod, entfaltet das heimische Radebeul seinen bislang stärksten Widerschein im neuen Roman „Anders“. Doch weit bedeutsamer als die Häuser, Gärten und Plätze ist die Stimmung, welche diese Labenbroder umfangen hält.

Die Hauptperson Peter Anders ist Geschichtslehrer am Gymnasium. „Rom und das stolze Karthago. Nach der Hofpause Weimarer Republik. Und am Nachmittag dann die Befreiungskriege. Das war der Tag, der vor ihm lag.“ Seine Frau Susanne ist in einer Bank in der Abteilung für Kreditvergabe an Handwerker und Mittelständler tätig. Die Kinder haben das elterliche Haus verlassen. Die befreundeten Paare sind Ärzte, Architekten, Ladenbesitzer, Pfarrer und Weinhändler.

Das Ehepaar beginnt auseinanderzudriften

Bei den gemeinsamen Feiern fällt ins Auge, wie die Zeit verstreicht. Der Alltag nimmt ungerührt seinen Fortgang. Tägliche Herausforderungen binden alle Kräfte. Es verbleibt keine Kraftreserve, um einen Einbruch des Schicksals in die Routine abzufedern. An einem Epiphanias-Tag tritt dann der Teufel aus der Maschine. Schuldirektor Bruck bestellt Kollege Anders in sein Dienstzimmer und liest ihm einen Elternbrief vor. Darin wird er des Übelsten angeklagt, was einem Lehrer vorgeworfen werden kann.

Anders ist ein Ausgestoßener ohne offizielles Urteil. Unsichtbar und unausgesprochen liegt ein Bann über ihm. „Der Brief hatte eine Schneise in die Zeit geschlagen und Bruck hatte den Brief ganz wie der Vollstrecker einer höheren Gewalt vorgelesen (…) Das war der Augenblick, in dem die Zeit in ein Davor und ein Danach zerfallen war.“ Er war den Konformen öfter unbequem, und so wird ihm rasch klar, daß er von Vorgesetzten und Kollegen keine Loyalität zu erwarten hat. Er zieht sich in sich selbst zurück.

Währenddessen wird der Sinn von Susannes Tätigkeit in der Bank von den Folgen der Wirtschaftskrise ausgehöhlt. Aus dieser Fragwürdigkeit kommend, erfährt sie zu Hause einen Mann, der sich über seinem eigenen Unglück zusammenkrümmt. Die Lebensbahn der zum Ehepaar gealterten Liebesleute beginnt auseinanderzudriften.

Dann saust ein zweiter Schlag nieder. Anders’ Spuren verlieren sich darauf in der Landschaft seiner Kindheit. An einem Lausitzer See bleibt sein offenes Fahrzeug zurück. Ein Freund beginnt dem Grund der falschen Anschuldigung gegen den Totgeglaubten nachzugehen. Darüber landet er in der Zentrale einer lokalen Hetzmeute. In weiser Umsicht wird die selbstermächtigte Meinungspolizei vom Autor politisch indifferent dargestellt. Über allem schwebt so eine Grundstimmung, die ihren gültigen Ausdruck noch nicht gefunden hat. Das Buch trägt lediglich eine böse Ahnung davon in die Gegenwart.

Zurückgelassen hat Anders auch seine stumme Wehrlosigkeit. Während diese daheim ihre Beute sucht, findet er Aufnahme in einem Bezirk selbstverständlicher Ruhe. Bewirkt durch sein Beinahe-Ertrinken ebnet ihm ein vorübergehender Gedächtnisverlust den Übergang in abgelegene Gefilde. Der müde Gehetzte darf im Rätsel rasten. „Möglich, daß es dieses Rätselhafte war, das sie irgendwie miteinander verband. Überall sonst gebärdete sich die Zeit als die Zeit nach den Rätseln. Es genügte, eine x-beliebige Zeitung aufzuschlagen, und schon wurde einem gesagt, daß noch das letzte Geheimnis bald gelüftet sei. War das nun ein Versprechen oder war das Drohung?“ Die Lüftung eines angedeuteten Geheimnisses wird vom Buch selbst weder angedroht noch versprochen.

In „Niemandszeit“ (2002) hat Bernig bereits einmal die Möglichkeit eines außerhalb der linearen Zeit gelegenen Seins beschrieben. Es vollzog sich in einem deutschböhmischen Dorf, das die letzten Kriegstage im Frühjahr 1945 von der Welt geschieden hatten. Die Beschreibung solcher Einkehr voller Dichte, aber ohne Dauer ist ein Grundmotiv seines Schreibens. Stilistisch hat das Buch keine Kanten. Die vierhundert Seiten lesen sich spannend weg und bergen dennoch überraschende Wendungen. Ein Roman, wie er zwischen zwei Buchdeckel gehört.

Jörg Bernig: Anders. Roman. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014, gebunden, 405 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Chemieindustrie in Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, Kinder spielen zwischen Autowracks (1993): Über allem schwebt eine Grundstimmung, die ihren gültigen Ausdruck noch nicht gefunden hat

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen