© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

„Meine Angebetete, mein lieber kleiner Vogel“
Ein geistesgeschichtliches Ereignis: Die Briefe des Literaten Rudolf Borchardts an seine Frau Marie Luise
Dietrich Böttcher

Im Frühjahr 1918 sah der Schriftsteller Rudolf Borchardt Marie Luise Voigt wieder, die ihn im Jahr zuvor als Sopranistin nicht eben beeindruckt hatte. Damals sang sie, wie er belustigt an Hugo von Hofmanns-thal schrieb, gleich einer wilden Lerche, und ihre Mutter habe bei diesem Auftritt im Duett wie ein Papagei geschrien, der Singvögel nachahme.

Ein Jahr später verliebte sich Borchardt in die wilde Lerche. Im November 1920 traten sie vor den Traualtar. Nach bürgerlich-strengem Maßstab war es da schon höchste Zeit, denn im April 1921 sollte Sohn Kaspar zur Welt kommen, das erste von vier Kindern. Die Schwangerschaft seiner Braut zählte für Borchardt jedoch zu den leichter zu lösenden Problemen, die ihm diese Beziehung eintrug.

Denn zunächst galt es, sich von seiner ersten Frau scheiden zu lassen. Was erst im Oktober 1919 gelang, aber nicht den hinhaltenden Widerstand der spröden Geliebten brach, die sich als „Bettschatz“ zu schade war und weiter von einer Sängerkarriere träumte. Ein Lebensweg, der ihren Eltern genehmer gewesen wäre als die Verbindung mit einem 20 Jahre älteren „Literaten“. Schließlich entstammte Marel, wie der Kosename der Tochter des gutsituierten Notars Robert Voigt lautete, einer honorigen Bremer Familie. Gesellschaftlich bewegte sich Borchardt, Sohn eines jüdischen Teehändlers aus Königsberg, der in Berlin sein Vermögen als Privatbankier gemehrt hatte, zwar auf etwa gleicher Ebene. Doch nahm man ihn an der Weser nicht als ebenbürtigen Großbürgersproß wahr, sondern als unsoliden Bohemien. Auch Rudolf Alexander Schröder, Marels Onkel und ein alter Dichterfreund Borchardts, wollte diese Mischung aus „Extravaganz & Verlogenheit“ lieber nicht zum Verwandten haben. Schlimmste Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als in der ersten gemeinsamen Wohnung der Gerichtsvollzieher zur Pfändung schritt, weil Borchardt die Miete schuldig geblieben war.

Einig wußten sich alle Beteiligten nur in einem Punkt: Marel würde keinen „gewöhnlichen Mann“ heiraten und keine „Philisterehe“ eingehen. Entsprechend hielt der sprachgewaltige Dichter, Essayist, Philologe, Übersetzer, Rhetoriker, professionelle Polemiker, nach eigener felsenfester Überzeugung „der letzte wirkliche Dichter Europas“, vor allem aber schlicht das Genie Borchardt nicht hinterm Berg, was die Umworbene bei ihm erwartete: „Du kommst in Sturmluft, süße Frau, in ein Leben großer Erregungen und Entwürfe, die Du mit mir teilen wirst, so tapfer und so hingebend, wie Du heute schon meine Verlegereien ungeduldig mit mir teilst (…), den mit jedem Buch und mit jedem Auftreten sich erneuernden Kampf mit der Menge, das Ringen um den geistigen Supremat in Deutschland, in die Bewegung der seelischen Reformation und Revolution.“

Briefe an die Ehefrau bis zu 80 Druckseiten lang

Wäre Marel Voigt ihrerseits eine „gewöhnliche“ höhere Tochter gewesen, hätte sie solche Zukunftsaussichten als Drohung aufgefaßt und sich umgehend mit einen ihr von Borchardt alternativ zugedachtem „Oberlehrer oder Amtsrichter“ begnügt. Die langerwartete, von Gerhard Schuster üppig kommentierte und durch eine Reihe von Marels Gegenbriefen bereicherte Edition der 298 Briefe Borchardts an seine Frau zeigt indes, daß die wilde Lerche ein majestätischer Albatros war, dem „Sturmluft“ behagte.

Überhaupt liegt der größere Gewinn der Edition darin, im Spiegel der endlosen, oft bis zu 20, in einem autobiographisch weit ausholenden Bekennerbrief vom Dezember 1919 sogar 80 Druckseiten beanspruchenden Episteln ihres schreibseligen Gemahls diese Frau kennenzulernen und zugleich in ihr einer Frauengeneration zu begegnen, die den seelischen Belastungen im Zeitalter der Weltkriege auch deshalb standhielt, weil „Emanzipation“ und „Selbstverwirklichung“ ihren gelebten Alltag bestimmte. Nicht daß Marel dem herrischen, ewig angespannten „Heldentenor der Weltgeschichte“ geistig gewachsen gewesen wäre. Aber mit souveräner „Lebensklugheit und Lebensenergie“ (Gerhard Schuster) meisterte sie den ihr angetrauten cholerischen Charakter, der sie bezauberte, weil er eine Welt in sich trug und, wie sie schwärmte, „durch seine vollkommne einzige Beherrschung der Kultur seiner Zeit“ beeindruckte. Ungeachtet vieler Zerreißproben und an den Rand der Trennung führender Ehekrisen, die ihr das Zusammenleben mit einem Mann bescherte, den die prekäre wirtschaftliche Lage seiner Familie nicht bewog, sich bescheidenere Quartiere als toskanische Prachtvillen zu suchen, ist dem Herausgeber wohl zuzustimmen, die „Liebesbeziehung“ der beiden stand „nie ernsthaft“ in Frage und endete erst mit Rudolf Borchardts Tod im Januar 1945.

Vom öffentlichen Beruf, vom politischen Ehrgeiz des Dichters, das „ordnungsflüchtige und ordnungsbrüchige“ deutsche „Selbstmördervolk“ nach der Machtergreifung der „Canaille“ im November 1918 wieder durch „Weisung“ und „Erinnerung alles Gewesenen“ in Form zu bringen, ist in den privaten, intimen, an keiner Stelle indiskreten Texten zwar weniger die Rede als in dem „einzigartigen Organon epistolarischer Literatur“ (Klaus Garber), den von Schuster seit 1994 herausgegebenen sechs Bänden der Briefe an Dritte sowie der Korrespondenz mit Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Alexander Schröder.

Gleichwohl schweigt der Homo politicus zwischen Liebesschwüren und Sorgen um Haus und Garten nicht. Die deutsche, und nach 1930 verstärkt die europäische Geschichte behält der Propagandist radikalster Remedurpläne stets im Auge. Der Bogen spannt sich von wütenden Kommentaren zu Novemberrevolution und Spartakusfuror hin zum Versuch, den Deutschnationalen zu helfen, das „infame Subjekt“, den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger zu eliminieren, weiter zu den ihm von „jüdischen Pressbengeln“ aufgezwungenen Reflexionen über Nation und Judentum, über die eigene Identität als Deutscher und Jude, führt dann zum publizistischen und rednerischen Engagement für eine „Revolution von rechts“, um die verhaßte Weimarer Republik abzuwickeln, und schließlich hin zu häufig grotesk unrealistischen Spekulationen über die internationale Lage, denen sich der Mussolini-Verehrer in den 1930ern hingab.

Gerhard Schuster widmet sein Forscherleben seit Jahrzehnten dem Titanen Borchardt. Da sind alle Kräfte angespannt, und trotzdem bleibt manche Ecke gerade in diesem Kommentar schwach ausgeleuchtet. Das politische Umfeld der Konservativen Revolution etwa, oder das akademische Terrain. Hier erweist sich der bienenfleißige Editor mitunter als wenig sattelfest. Aber aufs Ganze gerechnet, sind das Quisquilien, auch wenn man den Philosophen Julius Stenzel nicht zum Altphilologen umgetauft oder den nationalökonomischen Ordinarius Julius Landmann, der zum engeren Kreis des „Meisters“ Stefan George zählte, postum lieber nicht zum simplen „Angestellten“ des Kieler Weltwirtschaftsinstituts degradiert sähe.

Borchardt, der Erzfeind des „Meisters“ Stefan George

Im Gemengsel falscher Lebensdaten oder vergleichbarer biographischer Schiefheiten fallen auf 1.000 Seiten jedoch erfreulich wenige Aussetzer als wirklich gravierend ins Gewicht. Darunter ist allerdings der als solcher nicht bemerkte peinlichste Knick in Borchardts Rednerkarriere. Der ereignete sich anläßlich seines Festvortrages zum 2.000jährigen Vergil-Jubiläum, den er 1930 auf Einladung der Kieler Universität hielt. Schusters scheinbar lückenlose Kommentierung läßt allein den Schluß zu, Borchardt, der kurz zuvor den akademischen Zelebritäten der Reichshauptstadt Pindar neu deuten durfte, bewegte sich auf einem Triumphzug durch Deutschlands Hohe Schulen und sonnte sich im Zenit seines Ruhmes als Erneuerer des antiken Bildungskosmos. Nur auf die Verstocktheit der angeblich von George-Statthaltern durchsetzten Kieler Philosophischen Fakultät sei es zurückzuführen gewesen, daß Borchardt, der Erzfeind des „Meisters“, obendrein der Ehrendoktor versagt blieb.

Ein Blick in die Lokalpresse hätte Schuster nicht nur vor dieser verkürzenden Deutungsvariante bewahrt, er hätte auch den Unwillen des Publikums offengelegt, sich für Borchardts elitäre Restaurationsideen zu begeistern. Mit den rollenden Perioden der von düsterem Pathos umhüllten Vergil-Rede hätten die Zuhörer „nicht viel anzufangen“ gewußt, protokollierten die Kieler Neuesten Nachrichten. Wie unter der Lupe verdeutlicht diese Kritik, daß Borchardts antimoderner Gegenuniversalismus und die Predigt von der Wiederherstellung einer ganzheitlichen nationalen Kultur bereits vor 1945 wie aus der Zeit gefallen wirkte.

Das Großunternehmen der Editionen aus dem Borchardt-Nachlaß stellt die Produktion mit dieser monumentalen Trilogie noch lange nicht ein. Trotzdem scheint es auf der Zwischenstation angebracht, den wichtigsten Förderer würdigend zu erwähnen: den Antiquar Heribert Tenschert. Im Vorwort seines ersten Katalogs, ausgegeben im Winter 1977, mit dem cäsarischen Diktum, nur finanzielle Schranken hätten verhindert, daß ihm der Kosmos selber zum Sammelgebiet geworden sei, offenbart sich Tenschert früh als verehrungssüchtiger Schildknappe Borchardts und dessen „einsamer dichterischer Größe“, für die man „hohe Worte“ nicht zu scheuen brauche.

Tenschert erreichte in den achtziger Jahren rasch eine Position in seinem Metier, welche die Konkurrenz nicht nur in Deutschland wie Altpapierhändler aussehen ließ. Finanziell weiteten sich daher die Spielräume, so daß der Antiquar als Mäzen mehr als nur „hohe Worte“ spendieren kann, um mit der seinen Namen tragenden Edition die „poetische Reichsgewalt“ Rudolf Bor-chardt als sprachmächtigsten Widersacher „moderner Zeiten“, als erzreaktionären Provokateur und Stein des Anstoßes im Spiel zu halten.

Rudolf Borchardt: Briefe an Marie Luise Borchardt 1918–1944. Hanser Verlag, München 2014, 3 Bände, gebunden, 2.240 Seiten, Abbildungen, 226 Euro

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