© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Auf Menschenjagd mit Baumkrepierern
Vor siebzig Jahren verheerte ein US-Bombenangriff das mit Flüchtlingen überfüllte Seebad Swinemünde
Thorsten Hinz

Die Hafenstadt Swinemünde liegt am Swineufer an der Nordostecke Usedoms. Das Ufer gegenüber gehört zur Insel Wollin. Der Fluß stellt eine Verbindung her zwischen der Ostsee und dem Stettiner Haff. Die Stadt war – und ist – ein wichtiges Seebad. Theodor Fontanes Vater hatte hier 1827 die Adler-Apotheke erworben. Im Roman „Effi Briest“ heißt der Ort Kessin, Effis Ehemann Innstetten ist dort als Landrat tätig.

Seit der Verbreiterung der Swine im 19. Jahrhundert konnten auch große Schiffe in das Haff einlaufen (durch die sogenannte „Kaiser-Fahrt“), was Swinemünde zum Vorhafen für Stettin degradierte. 1876 war es an das Eisenbahnnetz angeschlossen worden und von Berlin und Stettin aus über Pasewalk erreichbar. Eine Bäderbahn führte durch die drei „Kaiserbäder“ Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin in Richtung Westen. Gegenüber auf dem Wolliner Ufer bildete der Fährhafen Ostswine den Endhaltepunkt für die Bahnlinien aus Hinterpommern.

Die Stadt war folglich ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs zur zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen und bald auch aus Ostpommern. Die ersten waren im Herbst 1944 auf kleinen Schiffen eingetroffen, ab Januar 1945 strömten sie zu Tausenden herein. Täglich machten Schiffe aus Pillau, Hela, Gotenhafen und Kolberg im Hafen fest. Weitere Flüchtlinge kamen mit der Bahn aus Richtung Kolberg und Köslin. Da die Fähren mit dem Transport vom Wolliner zum Usedomer Ufer überlastet waren, wurde eine Behelfsbrücke gebaut. Von Swinemünde aus sollten die Flüchtlinge nach kurzem Aufenthalt mit der Bahn weiter nach Westen gebracht werden.

Die Bomben versenkten auch sieben Flüchlingschiffe

In der Stadt gab es mehr als dreißig Flüchtlingslager. Allein durch die Fontaneschule wurden 32.000 Menschen geschleust. Weil der Eisenbahnverkehr immer wieder stockte, mußten Neuankömmlinge in der Stadt untergebracht werden. In Swinemünde strandeten auch Überlebende der „Gustloff“-Katastrophe. Unglücklicherweise wurde die Pontonbrücke über die Swine am 10. März von einem auslaufenden U-Boot gerammt. Die Reparaturarbeiten dauerten 18 Stunden. Unterdessen stauten sich auf der Wolliner Seite die Flüchtlinge. 40.000 befanden sich am 11. März auf der Nachbarinsel. Viele von ihnen gerieten am nächsten Tag in das Bomben-Inferno.

Seit 1934 war Swinemünde zum Militärhafen ausgebaut worden. Es gab Kasernen, Kaianlagen, einen Flugplatz für Wasserflugzeuge, eine Reparaturwerft, einen Ölpier. Auslöser für das dreiviertelstündige Bombardement am Mittag des 12. März war ein russisches Ersuchen an die amerikanische Luftwaffe, einen Schlag gegen die Massierung deutscher Schiffe zu führen. Die Marinekampfgruppe 2 war aus Gotenhafen nach Swinemünde verlegt worden. Zu ihr gehörten die Panzerkreuzer „Admiral Scheer“ und „Lützow“ sowie Zerstörer und Torpedoboote. Die Russen rechneten damit, daß die Schiffsartillerie gegen sie eingesetzt würde. Ihre eigene Luftwaffe sah sich zum Angriff außerstande. Dieser wurde von einer Armada aus 661 US-Bombern geführt, die von 412 Begleitjägern geschützt wurden. Es fielen 1.609 Tonnen Bomben, darunter 3.500 Fünf-Zentner-Bomben.

Auch die Innenstadt wurde mit Bombenteppichen belegt. Die leichte Bä­derarchitektur Swinemündes bot keinen Schutz. 55 Prozent der Stadt wurden zerstört. Im Hafen wurde ein Flüchtlingszug getroffen. Die schlimmsten Verheerungen entstanden im Kurpark, wo zahlreiche Menschen bei kühlen Temperaturen kampierten. Zudem wurden beim Bombardement sieben Flüchtlingsschiffe mit einer unbekannten Zahl von Zivilisten versenkt.

Ein Indiz dafür, daß ein Massaker an Zivilisten ausdrücklich beabsichtigt war, ist der Einsatz sogenannter „Baumkrepierer“. Es handelt sich um Bomben, die erst bei der leichten Berührung mit Bäumen explodieren und auf diese Weise möglichst viele Menschen töten und verletzen. Die Berichte vom Angriff klingen infernalisch. Von zerfetzten Leibern, die durch die Luft flogen, ist die Rede, vom Heulen der Bomben und Detonationen, von lodernden Bränden und gnadenlosen Tieffliegerangriffen mit Bordwaffen. Ein Leser dieser Zeitung, der damals acht Jahre alt war und kurz nach dem Angriff aus Kolberg kommend hier eintraf, erinnert sich in einem Brief an den Verfasser: „Als unser Schiff in den Hafen von Swinemünde einlief, stand die Stadt in hellen Flammen. Soldaten führten uns durch die brennenden Straßenschluchten. Die Hitze war so groß, daß wie unsere Köpfe mit Tüchern und Decken schützen mußten.“

Weil Seuchen drohten und weitere Flüchtlinge nachrückten, mußten die Toten schnell bestattet werden. Eine genaue Zählung und Identifizierung der Opfer war unmöglich. Bombentrichter nahmen menschliche Überreste zusammen mit Tierkadavern auf und wurden eilig zugeschüttet. Die meisten Toten wurden mit Pferde- und Lastwagen zur Bestattung auf den Golm gebracht, den mit 59 Metern höchsten Berg von Usedom. Hier wurden sie überwiegend anonym in Massengräbern beerdigt. Von dem Charme des Seebades war nach dem Angriff kaum noch etwas übrig. Den Hafenbetrieb allerdings schränkte der Luftschlag kaum ein, auch der Marinestützpunkt wurde nicht entscheidend getroffen. 23.000 Opfer soll das Inferno gekosten haben.

DDR tat sich schwer mit Gedenken an die Opfer

Swinemünde blieb über das Inferno hinaus ein unentbehrlicher Stützpunkt für den Flüchtlingstransport. Erst am 30. April 1945 heißt es im Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes: „16.30. Befehl (Keitels) an Großadmiral Dönitz und Heeresgruppe Weichsel, Verteidigungsbereich Swinemünde zu räumen.“

Heute gehört die Stadt zu Polen, der Golm liegt auf deutscher Seite. Die DDR tat sich schwer mit der würdigen Herrichtung der Grabanlagen. 1954 wurde ein 13 Meter hohes Holzkreuz, das die evangelische Kirche veranlaßt hatte, kurz nach der Aufstellung von „unbekannten Tätern“ abgesägt. Die Steinplastik „Frau im Soldatenmantel“ – heute bekannt als „Die Frierende“ –des Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien konnte erst dreißig Jahre später aufgestellt werden, weil sie nicht den Erwartungen der staatlichen Stellen entsprach. Schließlich wurde für die Grabstätten ein Ensemble errichtet, das an ein wendisches Ringgrab erinnert.

In den letzten Jahren ist es hier mehrmals zu Beschädigungen und Schändungen gekommen. Die metallenen Gedenk-inschriften am Rundbau und Bronzeplatten wurden gestohlen und durch bronzefarbene Buchstaben und Platten aus Kunststoff ersetzt. 2009 kam es zu Schmierereien, und gerade erst, im Februar 2015, wurden zwei Steinkreuze umgestoßen und mehrere Kunststofftafeln durch Pyrotechnik beschädigt. Ob die Täter gewöhnliche Kriminelle sind oder Aktivisten, die aus ihrem an bundesdeutschen Schulen genossenen Geschichtsunterricht praktische Konsequenzen ziehen wollten, ist noch offen.

Foto: Kriegsgräberstätte Golm bei Swinemünde: Es gab keine genaue Zählung und Identifizierung der Opfer

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