© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Der Flaneur
Flucht vor Freiheitsgraden
Paul Leonhard

Der Linienbus zeigt vorn den Namen meines Stadtteils. Die Busnummer ist mir neu. An der Haltestelle studiere ich den Fahrplan, steige in den nächsten Bus ein. Dieser fährt auf einer neugebauten Straße, taucht in einen Tunnel ein und quert plötzlich diese Brücke. Jahrelang ist um sie gestritten worden. Ein Bürgerentscheid setzte ihren Bau durch, was wiederum zum Entzug des Weltkulturerbetitels führte.

Jetzt fährt der Bus im Schritttempo über den Fluß, und ich genieße den Blick auf das wunderbare Panorama: die Elbe mit frühen Dampfern, das Ufer gesäumt von Brühlscher Terrasse, Zitronenpresse, Frauenkirche, Schloßturm, Hofkirche. Spontan steige ich an der nächsten Haltestelle aus und laufe zurück.

„Sind Architekten unter Ihnen?“ Auf einigen Gesichtern drückt sich geradezu Abscheu aus.

Während ich am Geländer lehne und mich an der Stadt erfreue, nähert sich eine Gruppe. Fast alles Männer, nur eine Frau kann ich erkennen. Sie sind weißhaarig und tragen Baustellenhelme. Ein Stück neben mir bleiben sie stehen. Einer beginnt zu erklären. Er schildert, daß schon unter Hitler hier eine Brücke geplant worden sei, dann erneut im Sozialismus, und erst jetzt habe man sie verwirklichen können. Er erzählt von den Protesten, von Fledermäusen und seltenen Vögeln. Die Gruppe hört andächtig zu, ein paar Fachfragen kommen. Was es alles gibt, Brückenführungen, denke ich.

Der Führer, offenbar der Oberbauleiter des Bauwerks, fragt in die Gruppe: „Sind Architekten unter Ihnen?“ Einstimmiges Murren, auf einigen Gesichtern drückt sich geradezu Abscheu aus. Keine Beleidigungen, bitte schön. Sie seien Bauingenieure, hätten zu Beginn der fünfziger Jahre gemeinsam an der Technischen Hochschule ihr Studium begonnen. Der Oberbauleiter grinst. Na, dann könne er Klartext reden. Die Architekten würden es sich ja immer einfach machen, mit ihren Entwürfen, die dann technisch kaum umzusetzen seien.

Das restliche Gespräch verstehe ich nicht mehr. Fachtermini strömen auf mich ein. Einer fuchtelt mit drei Fingern. Es geht um Freiheitsgrade, Statik und Statistik, nicht mehr um den schönen Ausblick. Ich renne zum Bus. Frauen sitzen, die tonnenweise Folie in den Haaren haben“

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