© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Seine Lehre ziehen
Große Politik zu gestalten heißt mit Alternativen zu arbeiten: Die Biographien von Hans-Christof Kraus und Christoph Nonn über Otto von Bismarck bereichern auf unterschiedliche Weise das Gedenken an den Eisernen Kanzler in seinem 200. Jubiläumsjahr
Udo Bäcker

Wer heute eine auf Vollständigkeit zielende Spezialbibliothek über Otto von Bismarck aufbauen wollte, müßte sehr gut bei Kasse sein. Denn kein anderer Deutscher, Goethe ausgenommen, hat das Bewußtsein der Mit- und Nachlebenden stärker gefesselt, über keinen ist daher mehr geschrieben worden als über diesen preußischen Landedelmann, der 1871 das kleindeutsche Kaiserreich gründete.

Ein „Meer von Material“ erwartet also jeden, der wie Christoph Nonn einen frischen Anlauf zur Bismarck-Biographie wagt. Jeder Stein, auf dem der Reichskanzler wandelte, sei inzwischen dreimal gewendet, jedes Wort ihm viermal im Munde umgedreht worden. So gründlich, daß auch weitere Funde „in Archiven und auf Dachböden“ keinen unbekannten Bismarck mehr zutage fördern würden. Für Nonn war das kein Grund zur Resignation und zum Ausweichen auf Forschungsbrachen, da er schließlich der Akten- und Literaturfülle dadurch Herr zu werden glaubte, wenn er sie mit „Fragen aus heutiger Sicht“ sortiere.

Klingt verlockend, erweist sich aber leider als uneingelöstes Versprechen. Denn wie beim Sandwich beschränken sich die zur Neustrukturierung vorgesehenen „Fragen und Antworten“ auf das erste und letzte Kapitel, während eine enttäuschend konventionelle Biographie die schwer zu kauende fleischige Mitte bildet. Nonn ist zwar eifrig bemüht, den Text dialogisch aufzulockern, klappert jedoch im Bummelzug von der Wiege bis zur Bahre den Lebensweg einer epochemachenden Gestalt brav positivistisch ab. Ein Zugewinn an historischer Erkenntnis ist, im Vergleich mit den heute noch maßgeblichen jüngeren Standardwerken Lothar Galls (1980) und Ernst Engelbergs (1985/1990), damit nicht verbunden.

Prüft man jene Fragen, die uns eine „neue Sicht auf Bismarck“ vor allem unter Berücksichtigung weltpolitischer Verschiebungen seit 1990 gestatten sollen, erscheint rätselhaft, wie sie uns, selbst bei konsequenter methodischer Umsetzung, das Zentralgestirn der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts hätten nahebringen können. Denn recht abwegig mutet etwa die Parallele zwischen der deutschen Entwicklung, die von 1850 bis 1900 vom Agrar- zum Industriestaat führte, und den Problemen an, die die islamische Welt mit der Modernisierung hat. Die „Lehre“, die Bismarcks Reich für die Gegenwart bereithielte, lautet demnach, daß Gesellschaften sich nur langsam modernisieren, liberalisieren, demokratisieren. Folglich sei in Nordafrika und im Nahen Osten dieser Prozeß nach dem „arabischen Frühling“ zunächst nur „steckengeblieben“, und das preußisch-deutsche Modell widerlege Zweifler, die behaupten, die islamische Welt sei zur Modernisierung nach westlichem Muster aus kulturell-religiösen Gründen prinzipiell unfähig.

Ein Vergleich, der exakt das Gegenteil dessen beweist, was er beweisen will. Vollzog sich doch in Deutschland der Umbau zur Industriegesellschaft zwischen den Anfängen von Bismarcks politischer Karriere im Vorfeld der Märzrevolution von 1848 und seinem Tod 1898 in nur zwei Generationen. Das von Nonn ebenfalls herangezogene kommunistische China benötigte von 1948 bis heute unwesentlich mehr Zeit, während im islamischen Raum auch fünf Generationen nach ersten nationalstaatlichen Umbauten im Osmanischen Reich kaum Rudimente der Moderne zu besichtigen sind.

Was seinem Düsseldorfer Kollegen mißglückte, Gedenkroutine zu umschiffen und Bismarcks Aktualität zu vermitteln, gelingt dem Passauer Historiker Hans-Christof Kraus beinahe spielerisch, da er mit den von Nonn nur angekündigten innovativen Inspektionen ernst macht. Dafür genügen ihm die prägnanten Kategorien seines Untertitels: „Größe – Grenzen – Leistungen“.

In der Forschung inzwischen unumstritten sind Bismarcks Grenzen als Persönlichkeit wie als Politiker. Beides ist für Kraus nicht zu trennen, da er dem Reichskanzler nach 1871 einen markanten Charakterwandel attestiert, der fatalste innenpolitische Fehlleistungen bedingte. Nach den grandiosen Erfolgen der drei Einigungskriege, die in die Reichsgründung mündeten, sei Bismarck nämlich von „eigener Unfehlbarkeit“ überzeugt gewesen. Darum riskierte er im „Kulturkampf“ leichtfertig den Konflikt mit der katholischen Minderheit, darum glaubte er mit den Waffen des Obrigkeitsstaats den Vormarsch der Sozialdemokratie stoppen zu können, und darum setzte er wiederum auf administrativen Zwang, um die „Polonisierung“ in den Provinzen Posen und Westpreußen einzudämmen.

Drei Vorstöße, die nicht nur im Debakel endeten, sondern die als „Reichsfeinde“ stigmatisierten Katholiken, Arbeiter und Polen erst provozierten, ihre soziokulturelle Identität im Widerstand zu festigen und sich als Sondergesellschaften zu etablieren. Den nachhaltigsten Schaden richtete Bismarck mit dieser Repressionspolitik im Verhältnis von Nation und Arbeiterbewegung an.

Denn die Bebel-SPD verstand sich nicht als „Fundamentalopposition“, sondern wollte nur ärgste Bedrückungen beseitigen. Das „staatliche Ganze“ sollte dauern und vor dem von der ersten Globalisierung bereits entfesselten Furor des Marktes schützen, da man wußte, was der marxistische Dramatiker Peter Hacks hundert Jahre später auf den Punkt brachte: „Was der Staat nicht regelt, regeln andere“ – Konzerne, Clans, Mafiosi.

Für Bismarck, den konservativen Erfinder des deutschen Sozialstaates, dem die USA „noch heute nichts Gleichwertiges zur Seite stellen können“ (Otto Pflanze), hätte es angesichts solcher Konstellationen ein leichtes sein müssen, den dominanten reformerischen SPD-Flügel von den Revolutionären zu trennen und in die Nation zu integrieren. Ein ähnlich schwerwiegendes Versagen kreidet Kraus dem Außenpolitiker Bismarck nur in einem, allerdings mit Blick auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges höchst folgenreichen Fall an, der Annexion Elsaß-Lothringens. Ausgerechnet der virtuose Staatsmann, der die Kunst beherrschte, mit fünf Bällen zu jonglieren, versperrte sich jene „Felder des diplomatischen Schachbretts“, die ihm nach 1871 ein Zusammengehen mit einem nicht revanchelüsternen Frankreich ermöglicht hätten.

Im Kontrast zu solchen Schattenseiten gibt Kraus dann Bismarcks Größe und Leistungen ein um so schärferes Relief. Im Vordergrund steht dabei, neben der Fundierung der Staatsnation, dem daraus erwachsenen gesamtdeutschen politischen Bewußtsein sowie der bis heute nachwirkenden „einmaligen Pionierleistung“ der Sozialgesetze, die unaufdringlich, aber mit didaktischer Hartnäckigkeit exponierte Meisterschaft, in Alternativen denken zu können. Wie von selbst entsteigt hier aus den Tiefen einer als Lehrmeisterin glänzend rehabilitierten Geschichte der erste Kanzler des Deutschen Reiches als der Antipode der bundesrepublikanischen „Entscheidungselite“, die eine in Washington und Brüssel gemachte, von ihr hingebungsvoll vollstreckte Politik seit Jahren als „alternativlos“ deklariert.

Große Politik zeichne eben nicht die Bewältigung aktueller Probleme aus, sondern die Kraft, Handlungsspielräume zu schaffen zur „vorausschauenden Mitgestaltung der Wirklichkeit“. Was freilich voraussetzt, daß die Fähigkeit, mit Alternativen zu arbeiten, vom Willen zur nationalen Selbstbestimmung gesteuert wird. Auch in dieser Hinsicht gilt für das Bismarck-Jubiläum 2015: Historia Magistra Vitae.

Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2015, gebunden, 400 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Hans-Christof Kraus: Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015, broschiert, 330 Seiten, 19,95 Euro

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