© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Urszenen des Kolonialismus
Der Ägyptologe Jan Assmann interpretiert den israelitischen Auszug aus Ägypten neu: Moses Gottesauftrag als Muster nationaler Rechtfertigung
Wolfgang Kaufmann

Einer Überlieferung ihren historischen Kern abzusprechen, ist immer dann riskant, wenn es ein Volk gibt, das in dieser Überlieferung die Beschreibung des Gründungsereignisses seiner Existenz sieht. Das gilt auch und gerade für die Infragestellung des Wahrheitsgehaltes der biblischen Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten.

Trotzdem wagt der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann nun genau diesen Affront. Selbst wenn es ein Volk im Pharaonenreich gegeben habe, welches im 13. oder 12. Jahrhundert v. Chr. in die Wüste Sinai und dann weiter nach Kanaan geflohen sei, heiße dies noch lange nicht, daß die Aussagen im Buch Exodus von tatsächlichen Ereignissen künden. Deshalb verzichtet Assmann in seiner neuen Studie über diesen Abschnitt des Alten Testaments, welche sich inhaltlich an „Moses der Ägypter“ von 1998 anschließt, auch auf jedwede Vorstellung und Diskussion möglicher archäologischer Zeugnisse für die Historizität von Moses beziehungsweise der zehn Plagen, des Durchzugs durch das Schilfmeer und so weiter.

Statt dessen versucht er den Exodus-Mythos sinngeschichtlich auszudeuten, also zu untersuchen, warum diese Legende permanent weitererzählt wurde. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß das an ihrem hohen symbolischen Gehalt liege, welcher aus einem religiösen Paradigmenwechsel resultiere. Immerhin zeichne das Buch Exodus den endgültigen Übergang zum Monotheismus nach, wobei die neue Frömmigkeit der Israeliten nicht darauf hinausgelaufen sei, die Existenz anderer, fremder Götter in Frage zu stellen. Vielmehr habe ihr Monotheismus auf dem Bündnis zwischen einem Gott und dem von ihm auserwählten Volk basiert. Und damit – hier kann man Assmann zunächst vollumfänglich zustimmen – entstand eine innovative Religion, die sich von den traditionellen altorientalischen Glaubensbekenntnissen in zweifacher Hinsicht unterschied: Zum ersten brauchte es aufgrund der direkten Offenbarungen des Gottes keine Priester oder Herrscher als Mittler zwischen ihm und den Menschen mehr, zum zweiten durchdrangen die explizit vom „Herrn“ kommenden Regeln und Gesetze jetzt sämtliche anderen „Wertsphären“ wie Politik, Recht, Wirtschaft und Kultur.

Für Assmann gehört dieser Umschwung zu den wichtigsten Zäsuren in der Geschichte der Menschheit überhaupt, weil er nicht nur konstituierend für das Judentum war, sondern auch das Christentum und den Islam prägte, also zwei Religionen, welche die Welt mit am nachhaltigsten verändert haben. Darüber hinaus hält er ihn für den Archetyp aller vom Menschen selbst herbeigeführten Wenden, der immer dann ins Bewußtsein rücke, wenn es darum gehe, einer Notlage aus eigener Kraft zu entkommen.

Daraus leitet Assmann auch die politische Bedeutung des zweiten Buches Mose ab: Da hierin nicht zuletzt berichtet werde, wie ein Volk sich finde und neu definiere, um dann ein Territorium in Besitz zu nehmen, welches scheinbar für dieses Volk geschaffen sei, verkörpere der Exodus zugleich die „Urszene des Kolonialismus“. Darüber hinaus spiele der Glaube einer ethnischen Gruppe, etwas Besonderes darzustellen, bei der Nationenbildung eine Rolle.

Spätestens an diesem Punkt dürfte jedem einigermaßen kritischen Leser klar sein, daß Assmann übertreibt, was die geschichtsprägende Kraft der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten anbelangt, wenngleich er dabei nicht so weit geht wie der emeritierte Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, welcher kürzlich mit skurril anmutendem Ergötzen feststellte, wie sehr „die mosaische Dialektik von reformistischer Selbstbefreiung und terroristischem, leninschem Befreiungsfuror die neuere Geschichte vorantreibt“. Außerdem widerspricht Assmann sich auch selbst. Das zeigt ein Blick in sein epochales Standardwerk „Das kulturelle Gedächtnis“, wo es ganz explizit heißt, daß es 500 Jahre nach dem Einzug der Juden ins Gelobte Land immer noch keine Herrschaft des Monotheismus gegeben habe: „Die Frühzeit Israels, von den Anfängen bis weit ins 7. Jahrhundert hinein, hat man sich als polytheistisch (...) vorzustellen. Jahwe ist Staatsgott (...), aber er wird nicht exklusiv verehrt, sondern als Oberhaupt eines Pantheons.“ Damit gerät dann natürlich das ganze Argumentationsgebäude ins Wanken! Die nunmehrige Heraufstufung des Exodus zum angeblichen Schlüsselereignis der gesamten nahöstlich-europäischen Geschichte ist freilich nicht die einzige Schwachstelle des Buches.

Ebenso muß sich Assmann die Frage gefallen lassen, wieso er die negativen Züge des Gottes herunterspielt, mit dem die Israeliten ihr Bündnis eingingen? Jahwe war schließlich auch cholerisch, rachsüchtig und gewalttätig – was erhebliche Konsequenzen hatte. Hierzu findet der Leser jedoch nur vergleichsweise wenige Sätze, welche zudem höchst doppelbödige Botschaften transportieren: „Die Gewalt, die hier im Spiel ist, ist ‘heilige’ Gewalt, die Gewalt des ‘heiligen’ Volkes, das sich gegen den Assimilationsdruck der Umwelt zur Wehr setzen (...) und sich selbst treu bleiben muß.“

Aber trotzdem: Das Hauptmanko des Werkes besteht darin, daß sein Verfasser keinerlei Bereitschaft zeigt, zu untersuchen, wieviel reale historische Substanz die Legende vom Auszug aus Ägypten beinhaltet, denn ohne ein möglichst präzises Bild von den tatsächlichen Vorgängen während des Exodus kann man nun einmal nur sehr vage spekulieren, welche Informationen auf welchen Wegen tradiert wurden und warum dies geschah. Hieran vermögen auch die inbrünstigen Verweise auf den angeblichen Nutzen der Sinngeschichte nichts zu ändern.

Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. Verlag C. H. Beck, München 2015, gebunden, 493 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

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