© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Die Freiheit immer nur mißverstanden
Einfache Botschaften im Recycling-Modus: Der Publizist Götz Aly verengt die Geschichte der Deutschen zu einer kollektivschuldigen Karikatur ihrer selbst
Stefan Scheil

Sagen wir es gleich. Götz Alys neues Werk ist ein weiterer Standardaufguß aus dem Weltbild des westdeutsch sozialisierten 68er-Intellektuellen. Alles darin kreist um den „Sonderweg“, um die „verspätete Nation“, um die kleinbürgerlich-gierigen, angeblich nicht freiheitsliebenden und – natürlich – 1945 von sich selbst „befreiten“ Deutschen.

Die Säulenheiligen des deutschen Geisteslebens heißen demnach Heine, Börne oder neuerdings Wilhelm Röpke. Keine Denkfigur ist zu gewagt, um zentrale positive Begriffe und Ereignisse der deutschen Geschichte irgendwie in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Freiheitskriege gegen Napoleon baut Aly zum Beispiel in sein Bild ein, indem er ihre Bedeutung umkehrt. Seitdem „verlor der Begriff Freiheit seine auf das Individuum gemünzte Bedeutung, wurde fortan volkskollektivistisch verstümmelt und als Freiheit von äußeren Feinden verstanden“, läßt er wissen.

Wenn das alles allzu bekannt klingt, dann liegt das abgesehen von erwähnten grundsätzlichen Beschränkungen des Horizonts auch daran, daß es sich vorwiegend um Zweitverwertungen handelt. Der Leser bekommt zum Beispiel Alys Dankrede für die Verleihung des Börnepreises 2012 geboten, mehrere Artikel aus der Berliner Zeitung und der Zeit, Vorträge und eine ebenfalls zweitverwertete „Predigt“, gehalten 2010 in der evangelischen Stadtkirche Darmstadt. Letzteres symbolisiert gewissermaßen Alys Kernanliegen. Es geht darum, den heutigen Deutschen ein schlechtes Gewissen und den ewigen Verdacht einzureden, man habe noch nicht genug NS-Zeit aufgearbeitet. Zu diesem Zweck werden die Deutschen der eineinhalb Jahrhunderte vor 1945 zu einer kollektivschuldigen Karikatur ihrer selbst degradiert.

Mit einer beachtlichen Akribie versucht Aly dabei, die positiven Anknüpfungspunkte einer deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte vor 1945 zu diskreditieren. Das betrifft neben den Freiheitskriegen auch die Revolution von 1848. Im Gedächtnis geblieben ist das daraus hervorgegangene Professorenparlament als eine etwas entschlußlose liberale Veranstaltung, die bald der Konterrevolution unterlag. Nicht so bei Aly. Er zieht von der Paulskirche gleich direkte Linien in die Weltkriegsära, etwa in Sachen Polenfeindschaft.

Gewiß, in der Paulskirche fielen 1848 radikale antislawische Äußerungen, dies ist richtig. Keine davon war allerdings so radikal wie das, was die sozialistischen Vordenker Karl Marx oder Ferdinand Lassalle zu diesem Thema schrieben. Von diesen Namen kommt bei Aly keiner vor. Man käme nach der Lektüre seiner Darstellung auch nie auf die Idee, daß die Paulskirche mit Eduard von Simson einen Präsidenten mit jüdischen Wurzeln hatte. Er arbeitet sich statt dessen am Liberalen Wilhelm Jordan ab, der im Parlament von der „Überlegenheit des deutschen Stammes gegen die meisten slawischen Stämme“ als einer „Tatsache“ gesprochen hatte. Für Aly stellt das eine „Ursünde“ dar – ein Beispiel für die pseudochristlich-psychoanalytisch aufgeladene Wortwahl, die den akademischen Streit seit langem durchzieht.

Zwei Seiten vorher werden dagegen Ludwig Börnes „Geistesgegenwart“ und „vollendeter Stil“ gelobt. Als ein Beispiel dafür bringt Aly dessen Ausführungen zum Kollektivcharakter von Juden und Deutschen. Die Deutschen strebten nach dem Kollektiv, so wird Börne zitiert, weil „ihr Blut langsamer schleicht als ein Zivilprozeß“. Dagegen seien die Juden nicht nur schneller, sondern von anderem Wert: Von ihnen „steht keiner so niedrig, daß er sich nicht als Mittelpunkt der ganzen Welt ansehen sollte“.

Es ist im 19. Jahrhundert eine ganze Menge an geistreichem Unfug geschrieben worden. Gerade Börne konnte von erlesener Beleidigungssucht und brillant vorgetragener Arroganz sein. Das kann, wer will, durchaus mit Vergnügen lesen. Daß es Autoren gab, die ihm das polemisch als „jüdische Anmaßung“ ankreideten, dürfte Börne dann seinerseits kaum ernstlich gewundert haben, auch wenn er gerne so tat. Aly nutzt diesen polemischen Schlagabtausch, um ganz Deutschland des 19. Jahrhunderts als Hort einer überall grassierenden Judenfeindschaft darzustellen. Eine ernsthafte Analyse ist das nicht.

Ein Beitrag hebt sich hervor. Er ist neu. Aly berichtet darin über seine Recherchen zum Umgang deutscher Hirnforscher mit Präparaten, die aus den Euthanasie-Aktionen des NS-Regimes stammten. Er vollzieht deren Wege nach und kann einigermaßen zwingend belegen, daß man diese Präparate nicht nur angeboten oder zur Verfügung gestellt bekam, sondern aktiv einforderte. Insofern sei die Hirnforschung direkt an der Tötung beteiligt gewesen und habe das nach 1945 vertuscht. Das ist ein wertvoller Beitrag, in dem Roß und Reiter genannt werden. Schön wäre es, wenn Aly auch auf anderen Feldern historischer Betrachtung präziser werden und die westdeutsche Geistesprovinz verlassen könnte.

Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, gebunden, 272 Seiten, 21,99 Euro

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