© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Alles unverträglich
Immer mehr Deutsche meinen, an irgendeiner Nahrungsintoleranz zu leiden: Der „Frei von“-Lebensmittel-Hype ist jetzt die Folge
Heiko Urbanzyk

Der Markt für gluten-, laktose-, fruktose- und sonst-was-freie Nahrungsmittel floriert. Im Jahr 2012 kauften 18 Prozent aller befragten Haushalte laktosefreie Milchprodukte; 80 Prozent dieser Haushalte gaben an, es gäbe gar keine Haushaltsmitglieder mit Laktoseintoleranz. Und während unter der Glutenunverträglichkeit Zöliakie lediglich 0,1 bis 1 Prozent der Deutschen leiden, gaben 9 Prozent an, sie mieden Gluten, das in Getreide vorkommt. 11 Prozent verzichten auf Käse, Rotwein und Fleischprodukte wegen einer vermeintlichen Unverträglichkeit des darin enthaltenen Histamins. „Ob es eine Histaminintoleranz überhaupt gibt, gilt in der medizinischen Fachwelt jedoch noch als unklar“, bohrt Susanne Schäfer in ihrem aktuellen Buch den Stachel ins Fleisch.

Mittlerweile 23 Prozent aller Deutschen meiden bestimmte Lebensmittel, weil sie der Überzeugung sind, eine Unverträglichkeit gegen sie aufzuweisen. Wem der Arzt keine handfeste Zöliakie diagnostiziert, der diagnostiziert sich selbst eine nicht nachweisbare Glutensensitivität. Nicht nachweisbar heißt allerdings auch: Wissenschaftler ziehen deren Existenz überhaupt in Zweifel. Schäfer redet keineswegs der Chemie im Essen und der Agrarindustrie das Wort. Aber das irrationale Verteufeln von natürlichen Lebensmittelbestandteilen wie Gluten, Laktose, Fruktose und Histamin geht ihr zu weit. Ihre Kritik liest sich, als sei ein Viertel der Bevölkerung in einen ernährungsfixierten Schwachsinn verfallen. Vom Land der Dichter und Denker zur Intensivstation der Modekranken. Was ist eigentlich los mit uns?

Es regiert der Körperkult und ein Belauschen des inneren Ich. Ein Perfektionswahn, in dem nicht sein darf, daß ein Bauch einfach mal nur grummelt und der Darm bläht. Was nicht reibungslos funktioniert, kann nicht normal sein, selbst wenn seriöse Wissenschaftler sagen, alles sei gesund. Und in der Tat gibt es noch nicht allzu viele eindeutige wissenschaftliche Ernährungserkenntnisse. Teure, aber dafür stichhaltige Forschungen werden oftmals gescheut. Das öffnet selbsternannten Ernährungsgurus Tür und Tor. Ob Low Fat, Low Carb oder Steinzeit-Diät: Für jede „Ersatzreligion“ (Schäfer) findet sich ein Prediger. Die totale Gegensätzlichkeit der Allheilmittel verunsichert die Jünger nicht. Von der wissenschaftlich unhaltbaren Selbstdiagnose aus dem Internet bis zur ebenso zweifelhaften Therapie: Schulmediziner und Wissenschaftler sind aus dieser Welt verbannt.

Die Modekranken müssen laut Schäfer ernst genommen werden. Deren Unwohlsein ist für sie selbst schließlich real. Das Vorliegen einer Krankheit oder anderer Ursachen für körperliche Beschwerden darf nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Psyche muß von dem eitel gepflegten „Krankheitsbild“ Nahrungsmittelunverträglichkeit sanft gelöst werden. Oder geht der Trend von alleine?

Schäfer bringt letztlich auf den Punkt, was jeder Mensch mit durchschnittlicher Einsichts- und Urteilsfähigkeit eigentlich selbst erkennen kann oder erkennen müßte: Wir essen nicht das Falsche, sondern fressen von allem, was es gibt, viel zuviel. Wer morgens mit einem Liter Milch beginnt und sich den Rest des Tages mit Café Latte auf den Beinen hält und abends Müsli mit Milch ißt, darf sich über „Unverträglichkeit“ nicht wundern.

Susanne Schäfer: Der Feind in meinem Topf? Schluß mit den Legenden vom bösen Essen, Hoffmann & Campe, Hamburg 2015, gebunden, 240 Seiten, 16,99 Euro

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