© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Ewige Kunst mit theatralischem Gestus
Stammvater der Malerei: Peter Paul Rubens und sein Vermächtnis in einer Londoner Ausstellung
Sebastian Hennig

Eine reizende Anekdote verknüpft die Geburt von Peter Paul Rubens im westfälischen Siegen im Juni 1577 mit dem neun Monate zuvor in Venedig erfolgten Ableben des beinahe hundertjährigen Tizian. Diese Mär von einer Reinkarnation des malerischen Genius ist nur die abergläubische Version von einer offenkundigen Wahrheit. Tizian ersteht als junger Mann aus dem Geist der Frührenaissance und ragt als vitaler Greis noch in die Erstarrungen des Manierismus hinein, dessen steifer Monumentalität dann Rubens neue Gelenke eingezogen hat. Eine Lebenszugewandtheit, die sich durchaus jener der frühen Renaissance vergleichen läßt, hält mit diesem wieder Einzug in die Malerei.

Mit seiner grandiosen Geschmeidigkeit wurde Rubens zum Stammvater der Malerei der nachfolgenden Jahrhunderte. Diese Bedeutung streicht die Ausstellung „Rubens und sein Vermächtnis: von Van Dyck bis Cézanne“ heraus. Im Herbst vorigen Jahres war sie bereits in Brüssel zu sehen, wo Rubens einst Hofmaler des spanischen Statthalters war, ohne selbst am Hof zu leben. Jetzt wird die Ausstellung in der Royal Academy London gezeigt.

Einen viertelstündigen Spaziergang vom Ausstellungsort in Richtung Themse entfernt befindet sich das Banqueting House. Es ist das einzige erhaltene Gebäude des 1698 niedergebrannten königlichen Whitehall-Palastes. Ein prachtvolles Deckengemälde des flämischen Meisters verherrlicht dort heute noch das Geschlecht der Stuarts. Rubens erhielt den Auftrag von Karl I., während er 1629/30 als Gesandter des spanischen Königs in London weilte. Im Antwerpener Atelier wurden die Leinwände fertiggestellt, verschifft und 1636 im Bankettsaal in London angebracht. Der Maler wurde dafür fürstlich entlohnt und zum Ritter geschlagen. Dreizehn Jahre später wurde der Auftraggeber vor dem Gebäude enthauptet.

Patron seines Berufsstandes

Die Ausstellung ist in sechs Abteilungen gegliedert, die jeweils Aspekte der Rubensschen Malerei vorführen. Unter dem Begriff „Macht“ werden einige der Entwürfe zur Decke des Banqueting House gezeigt, darunter die Ölskizzen „Die Klugheit besiegt die Ignoranz“, „Jakob I. mit Wache“ sowie eine mit dem Pinsel monochrom gezeichnete „Apotheose Jakobs I.“ In diesen Vorstufen liegt die paradoxe Tatsache einer fast intimen Staatskunst besonders offen vor uns ausgebreitet. Sehr milde und zivil blicken sowohl der weise König als auch die geharnischte Minerva uns entgegen.

Die in der Abteilung „Lust“ versammelten Werke haben gar nichts mit Lüsternheit oder Unzucht zu schaffen. Eine Aura der Unberührbarkeit umfängt diese Nackten. Dadurch sind sie der Prüderie ebensoweit entrückt wie der vulgären Wollust. Daß in dieser barocken Einkleidung, oder zuweilen auch Entkleidung, antiker Geist weht, bemerkte schon der Archäologe, Bibliothekar und Kunstschriftsteller Johann Joachim Winckelmann, der Rubens wegen der „unerschöpflichen Fruchtbarkeit seines Geistes“ mit Homer verglich: „Er ist reich bis zur Verschwendung: Er hat das Wunderbare wie jener gesucht, überhaupt wie ein dichterischer und allgemeiner Maler, und insbesondere was Komposition, Licht und Schatten betrifft.“

Rubens lernte die Malerei und erhielt zugleich eine humanistische Bildung in Antwerpen. Den letzten Schliff erhielt der Flame im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts in Rom, Mantua, Genua und Madrid. Zwei Jahrzehnte später hat er in Spanien tatsächlich voller Bewunderung einige Gemälde von Tizian kopiert. Damals wurde er vom jungen Hofmaler Diego Velázquez betreut. Von Rubens kam der Anstoß dafür, daß Velázquez durch Philipp IV. zum Studium nach Italien geschickt wurde.

Sein für einen Maler einzigartiger gesellschaftlicher Rang ließ Rubens rasch zum fast sagenhaften Patron seines Berufsstandes werden. Luca Giordano schuf schon um 1660 das Gemälde „Peter Paul Rubens malt eine Allegorie des Friedens“. Auf dieses muß die Sonderausstellung ebenso verzichten wie auf viele der Landschaftsbilder von Rubens. Aufgrund der fragilen Stoßfugen der bemalten Holztafeln verbietet sich jeder Transport.

Die Beispiele der Gefährten und Nachfolger zeigen, welchen Spielraum von Gestaltungsmöglichkeiten seine Malerei eröffnete. Seine Organisation der Massen und die Farbklänge kehren wieder. Über drei Jahrhunderte reißt die Kette nicht ab, von den Werkstattgefährten Jacob Jordaens, van Dyck, über den Deutsch-Venezianer Johann Liss, vor allem aber zu den Franzosen. Da sind alle großen Namen vertreten: Fragonard, Géricault, Delacroix, Daumier und Renoir.

Paul Cézanne hat mit seinen Badenden das Verhältnis zwischen körperlicher Gebundenheit und kosmischer Ordnung zu einem Hauptthema seiner Malerei gemacht. Rotgold feuert das weibliche Gelock der vordersten der „Drei Badenden“ vor dem kühlen Grün des Wiesenplans. Die „Einschiffung“ von Rubens’ Werkstattgefährten Jacob Jordaens wirkt wie das Stichwort zu den Rokoko-Idyllen von Watteau. Édouard Manets „Das Angeln“ stellt ein Liebespaar in der flämischen Tracht der Rubens-Zeit in eine metaphysische Landschaft nach Art des jungen Tizian, als dieser noch der Gefährte von Giorgione war. Dieses bezeichnende Bild war leider nur in Brüssel ausgestellt. In London ersetzen es einige der Hauptwerke der Landschaftsmalerei von John Constable sowie ein Erntewagen des Thomas Gainsborough. Dieser erscheint als direkter Nachfahre des sinnlich-allegorischen Landschaftstheaters seines großen Vorbilds, beispielhaft vertreten in dessen „Landschaft mit Steinfuhre“ (um 1629) aus der Gemäldegalerie der Eremitage in Sankt Petersburg. Die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, Mutter des Philosophen, zeigte sich gewaltsam ergriffen von dem aus Rubens‘ Werkstatt stammenden Gemälde „Das jüngste Gericht“: „Ich konnte vor innerem Grauen den Anblick kaum ertragen und auch nicht mich davon abwenden.“

Umerfindungen des Alten in eine neue Form

Neben der Gewalt sind Mitgefühl, Eleganz und Poesie weitere Signalworte, um die Beschaffenheit von Rubens’ Bilderwelt zu kennzeichnen. Im 19. Jahrhundert entstand um den Maler ein Kult. Rubens wurde zum Mythos. Antoine Wiertz empfand sich als Wiedergeburt seines großen Landsmannes, indem er sehr direkt dessen Sujets weiterführte. Auch Arnold Böcklin knüpft mit seiner Kampfdarstellung auf der Brücke direkt an die Amazonenschlacht von Rubens an. Auf Apfelschimmeln sprengen nackte Knaben über die Holzbrücke ihrem Feind entgegen. Böcklins Kollege Hans Makart ging 1879 als Rubens verkleidet in einem Festumzug durch Wien.

Peter Paul Rubens ließe sich anstatt eines im Doppelsinne ersten Malers des Barock ebensogut als ein letzter großer Meister der Renaissance bezeichnen. Denn er war weit weniger ein Neuerer als Caravaggio oder Rembrandt. Dafür besaß er ein beispielloses Talent dafür, komplexe Themen und scheinbar widersprüchliche Bewegungen in einer schlüssigen und überzeugenden Gesamtheit zu verbinden. In diesen Verbindungen sind keine Fugen und Nähte auszumachen. Es sind vollständige Umerfindungen des Alten in eine neue Form: ewige Kunst mit theatralischem Gestus.

So wie der Dichter Horaz in seinen Verwandlungen, erzählt der Maler Rubens die bekannten Geschichten so nach, wie sie zuvor noch nie vernommen worden sind. Heute blicken viele Betrachter, die weniger mit der Antike und der christlichen Ikonographie vertraut sind, auf seine Bilder wie Menschen aus dem Westen auf das Kabuki-Theater: Wenn sie auch den Sinn nicht erfassen, werden sie doch durch die Form und die Vortragsweise in den Bann gezogen.

Die Ausstellung „Rubens und sein Vermächtnis: von Van Dyck bis Cézanne“ ist bis zum 10. April in der Londoner Royal Academy of Arts, Burlington House, Piccadilly, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Fr. bis 22 Uhr, Sa. bis 20 Uhr, zu sehen.

Der Katalog auf deutsch (E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2014, gebunden) mit 352 Seiten kostet 49,95 Euro. www.royalacademy.org.uk

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