© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Das Tempo ist zu hoch
Klassisches Klavierrepertoire: Ingolf Wunder spielt Tschaikowski und Chopin
Markus Brandstetter

Es gibt in der Geschichte der Kunst erstaunliche, unverständliche und unverzeihliche künstlerische Fehlurteile. Charles-Augustin Sainte-Beuve, der größte französische Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts, hat die Bedeutung Gustave Flauberts ein Leben lang verkannt. Der Romancier André Gide hat als Verlagslektor die Annahme des ersten Bandes von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vereitelt. Und Nikolai Rubinstein, Pianist, Direktor des Moskauer Konservatoriums und angeblicher Freund Peter Tschaikowskis, hat dessen Klavierkonzert in b-Moll beim ersten Anhören in der Luft zerrissen.

Der Schmerz darüber, wie Rubinstein mit ihm umgesprungen ist, hat den Komponisten noch Jahre später voller Zorn und Ingrimm an seine Brieffreundin und Mäzenin Nadeshda von Beck schreiben lassen: „Ich spielte den ersten Satz. Nicht ein Wort, nicht eine Bemerkung (…) Ich fand die Kraft, das Konzert ganz durchzuspielen. Weiterhin Schweigen. Nun? fragte ich, als ich mich vom Klavier erhob. Da ergoß sich ein Schwall von Invektiven aus Rubinsteins Mund. Mein Konzert sei wertlos, völlig unspielbar. Die Komposition selbst sei schlecht, trivial, vulgär. Hier und da hätte ich bei anderen geklaut. Ein oder zwei Seiten seien vielleicht wert, gerettet zu werden, das Übrige müsse vernichtet oder völlig neu komponiert werden.“

Dieses Stück ist heute eines der berühmtesten Konzerte für Klavier und Orchester auf der Welt. Auch Menschen, die keinen Dunst von klassischer Musik haben, kennen mindestens die majestätisch-grandiose Einleitung (Ta-ta-ta-taa). Es ist das am meisten aufgeführte und auf Schallplatten aufgenommene Konzert der Welt, und bis auf den exzentrischen Glenn Gould gab und gibt es seit seiner Uraufführung im Jahr 1875 keinen Pianisten, der es ignorieren kann.

Nikolai Rubinstein, der sich mit Tschaikowski jahrelang eine Wohnung geteilt hatte, verschätzte sich jedenfalls: Tschaikowski änderte keine Note an seiner Komposition, sondern schickte die Partitur mit einer Widmung versehen an Hans von Bülow. Der Ex-Schwiegersohn von Franz Liszt und erste Mann von Cosima Wagner war einer der besten Pianisten und Dirigenten des 19. Jahrhunderts. Er erkannte den Wert der Komposition des Russen sofort und führte sie mit triumphalem Erfolg in Boston in den USA auf. Seitdem hat das Stück einen Siegeszug durch die Konzertsäle der Welt angetreten.

Der Dirigent hastet durch die Sätze

Nun haben Vladimir Ashkenazy und der junge österreichische Pianist Ingolf Wunder (Jahrgang 1985) das Konzert 2012 live in Sankt Petersburg mit den Sankt Petersburger Philharmonikern eingespielt. Eigentlich hätte da alles passen müssen: das Orchester, die früheren Leningrader Philharmoniker, ist eines der besten der Welt; Vladimir Ashkenazy, der Dirigent, hat 1962 als junger Mann den Tschaikowski-Wettbewerb gewonnen, bei dem genau dieses Klavierkonzert Pflichtstück ist; und Ingolf Wunder ist ein agiler und sympathischer Pianist, der bereits auf viel Konzerterfahrung zurückblicken kann. Man hätte also mit einer großen Einspielung rechnen können. Leider ist es das nicht geworden.

Die Probleme beginnen gleich in der Einleitung zum ersten Satz, und zwar beim Tempo. Diese berühmten fallenden Quinten, denen der Pianist vollgriffige, über die ganze Klaviatur hinweg aufsteigende Akkorde entgegensetzt, ist „Andante non troppo e molto maestoso“ überschrieben, aber Ashkenazy hastet dermaßen durch diesen Beginn, der auf ein ukrainisches Volkslied zurückgeht, daß keine feierlich-majestätische Stimmung aufkommen mag. Die meisten Dirigenten brauchen 22 Minuten für diesen Kopfsatz, Ashkenazy nur neunzehn; das klingt nach keinem großen Unterschied, aber in der Musik sind das Welten. Das ist ungefähr so, als würde eine Seilschaft die Eiger Nordwand, für die die meisten Bergsteiger zwölf Stunden benötigen, in drei durchsteigen.

So hoch ist das Tempo in dieser Aufnahme, daß Wunder schon bei der ersten Kadenz Schwierigkeiten hat. Die beidhändigen Oktaven, die nach dem Seitenthema zur einer Ruhe in c-Moll führen, schafft der Pianist nur noch mit viel Getöse und noch mehr Pedal. Auch die gefürchtete Oktavpassage nach dem langen Orchestertutti, das zur Durchführung überleitet, da also, wo andere Pianisten wie Swjatoslaw Richter oder Jewgeni Kissin vor Kraft und Geschwindigkeit geradezu explodieren, bewältigt Wunder nur noch mit Ach und Krach.

Auch bei der Durchführung des lyrischen Seitenthemas, wo leidenschaftliche Innigkeit bei strengster rhythmischer Präzision gefragt wäre, hat der Pianist an den diffizilen Stellen, wo Triolen gegen Duolen zu spielen sind, Schwierigkeiten und kann nirgends die zauberhaft-sehnsüchtige Stimmung, die Herbert von Karajan zu erwecken vermochte, herstellen. Im Beiheft zur CD werden die schnellen Tempi dieser Aufnahme mit Ashkenazys „neuer Linie“ erklärt, die „das ausladende Pathos und die künstlerische Gespreiztheit allzu vieler Interpreten vermeiden wolle“ – wobei mit „allzu viele Interpreten“ offenbar alle großen Pianisten der letzten hundert Jahre gemeint sind.

Ingolf Wunder hat eine gute, aber keine überragende Technik und schon gar nicht die große russische Technik, die man brauchte, um dieses Konzert in diesem Tempo zu spielen. Das Beste an dieser CD sind tatsächlich die Sankt Petersburger Philharmoniker, die brillant, mit virtuosem Blech und warmen Holzbläsern aufspielen und sich von Ashkenazy ungerührt durch alle Schluchten und über alle Gipfel jagen lassen.

Das zweite Stück auf der CD ist das erste Klavierkonzert von Chopin, das Wunder technisch sicherer spielt, aber auch hier vermißt man das zarte, singende Piano, über das zum Beispiel ein Krystian Zimerman verfügt.

Natürlich kann bei Live-Aufnahmen nicht alles perfekt sein, aber das allein kann manche Enttäuschung, die diese Einspielung bietet, nicht erklären.

Ingolf Wunder, Vladimir Ashkenazy Tschaikowsky & Chopin Deutsche Grammophon, 2014

www.deutschegrammophon.com

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