© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Der ästhetische Wert der Currywurst
Archivar des 68er-Gedächtnisses: Der Schriftsteller Uwe Timm feiert seinen 75. Geburtstag
Felix Dirsch

Nur wenige Literaten haben Wirklichkeit und Wahrheit kollektiver Mythen, exemplifiziert am Beispiel der 68er-Generation wie der NS-Zeit, in Form hochverdichteter, narrativ vorgetragener Sinndeutung so sehr ins Zentrum ihrer Veröffentlichungen gestellt wie der Schriftsteller Uwe Timm.

Der literarische Erfolg war dem 1940 in Hamburg geborenen Autor nicht in die Wiege gelegt. In jungen Jahren leitete er nach dem Tod des Vaters das elterliche Pelzgeschäft – eine Tätigkeit, die ihn nicht befriedigte. Nach dem Erwerb der Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg folgte das Germanistikstudium mit anschließender Promotion. Neben seinen vielverkauften, teilweise auch verfilmten Texten („Rennschwein Rudi Rüssel“) machte er durch etliche Gastdozenturen in halb Europa von sich reden.

Erstmals größere Aufmerksamkeit gewann er 1971 mit seinem Gedichtband „Widersprüche“. Er enthält Gemeinplätze wie „Der vorherrschende Sprachgebrauch ist der Gebrauch der Sprache durch die Herrschenden“, die dennoch ihre Gültigkeit, wenn auch unter stark veränderten Bedingungen, in der unmittelbaren Gegenwart behalten. Der Lyriker wollte eine Sprache entwickeln, mit der er die vermeintlichen Objekte der Ausbeutung erreicht.

Die Opferperspektive soll vorherrschen

Der erste Roman „Heißer Sommer“ fiel durch gekonnte Kompositionen, Montagetechniken sowie witzige und spannende Dialoge auf. Als Held wählte Timm einen prototypischen Repräsentanten der Revolte und verfolgte seinen Werdegang. Ullrich Krause fühlt sich angeödet durch den akademischen Elfenbeinturm. Ihn zieht es zur konkreten politischen Arbeit. Anders als ein weiterer Protagonist Timms, Christian Kerbel, die Hauptfigur des Romans „Kerbels Flucht“, der im Kugelhagel der Polizei stirbt, ist Krause am Ende ernüchtert, aber doch gefestigt. Die Intention Timms ist leicht zu eruieren: eine zeitgemäße Neuauflage von Goethes „Werther“ für unsere Zeit vorzulegen. Während Krause noch die Hoffnung auf ein Gelingen der Proteste verkörpert, personifiziert Kerbel das Scheitern der Kulturrevolution.

Aufarbeitung der Geschichte bedeutet für Timm nicht zuletzt, historische Ereignisse vor 1933 als direkte Vorgeschichte des Dritten Reiches zu rezipieren. Auch in diesem Kontext ist der typische 68er-Blickwinkel leicht zu erkennen. „Morenga“ aus dem Jahre 1978 schildert den Kolonialkrieg der deutschen Truppen von 1904 bis 1907 in Deutsch-Südwestafrika. Der Verfasser will in Form von Generalstabsberichten, Militärkorrespondenzen, Telegrammen, Erlassen und sonstigen Dokumenten einen anderen Blick auf diese Ereignisse werfen, in klarer Abgrenzung zu den herkömmlichen Kolonialromanen etwa eines Hans Grimm. Die Opferperspektive soll vorherrschend sein, auch da, wo die Täter zu Wort kommen.

Neben etlichen vieldebattierten Schriften, beispielsweise seinem sehr humoristisch gehaltenen Prosabuch „Der Mann auf dem Hochrad“ (1984) und dem zivilisationskritischen „Schlangenbaum“ (1986), ist seine Auseinandersetzung mit der eigenen Familientradition erwähnenswert. „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) setzt sich mit dem um sechzehn Jahre älteren Bruder auseinander, der als junges Mitglied der Waffen-SS in der Ukraine fiel. Einige seiner Tagebuchaufzeichnungen geben Hinweise auf eine Beteiligung an Kriegsverbrechen während des Rußland-Feldzuges. Diese möglichen Verstrickungen lassen sich jedoch nicht eindeutig belegen. Obwohl Timm die moralistische Perspektive nicht allzu klar hervorkehren will, da sie bei den Nachgeborenen ohnehin omnipräsent ist, kommt sie doch an mehreren Stellen der Reflexionen zum Vorschein.

Ausschließlich die Täterrolle zugeordnet

Grotesk wird es dort, wo der aus Gründen der vielzitierten „Gnade der späten Geburt“ Frontunkundige vermutet, dem Familienmitglied, dem ausschließlich die Täterrolle zugeordnet wird, seien die Opfer auf beiden Seiten „normal, also human“ erschienen. Die schwierige Situation, in der sich der Bruder befand, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gewalt der gegnerischen Seite, wird komplett ignoriert. Eine solche differenzierte Betrachtung störte den Schwarzweiß-Kontrast.

Als der vielleicht größte Erfolg Timms, der in dem Buch „Der Freund und der Fremde“ eine Hommage an seinen Weggefährten Benno Ohnesorg vornimmt, darf die novellenartige Erzählung „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993) gelten. Am Beispiel alltäglicher Erfahrungen wie Geschmackseindrücke und Gerüche setzt die Erinnerung ein. Lena Brücker, die angebliche Erfinderin der Currywurst, rekapituliert in einem Altersheim, wie sie die schweren Zeiten nach 1945 überlebt hat. Der Rückblick ergibt ein abgerundetes Bild der Zeit, eine für Timm typische, verdichtete Schilderung, die viele Leser findet.

Uwe Timm vermag über narrativ-stilistische Fähigkeiten zu verfügen. Jedoch sind jene Einseitigkeiten unübersehbar, die für die meisten Autoren seiner Alterskohorte charakteristisch sind. Sie laufen, anders als ältere Vergangenheitskritiker à la Grass, nicht einmal Gefahr, sich in den selbstgelegten Fallstricken zu verheddern. Timm ist wahrlich nicht der einzige frühere Kritiker des Herrschaftsmittels Sprache, der den heutigen Machtvirtuosen die verbalen Instrumente ihrer Regentschaft frei Haus liefert, indem er maßgeblich dazu beiträgt, ihre Hegemonie über die zeitgeschichtliche Deutung weiter abzusichern. Es ist kaum zu erwarten, daß das an marxistischer Philosophie geschulte, einstige DKP-Mitglied derartige Dialektik durchschaut.

Foto: Uwe Timm auf der Frankfurter Buchmesse (2013): Einseitig im Blick auf die deutsche Vergangenheit

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