© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Die Revolution macht Pause
Herausgeputzt zum 500. Jahrestag: Santiago de Cuba präsentiert sich als Hauptstadt der Kultur
Alessandra Garcia

Der Glockenschlag signalisiert die volle Stunde. Der steinerne Engel des Jüngsten Gerichts blickt, die Posaune in der Hand, von der Kathedrale Nuestra Señora de la Asunción hinüber zum Rathaus, wo zwei Uniformierte die Nationalfahne einholen und damit signalisieren: Feierabend. Die permanente Revolution macht Pause bis zum nächsten Morgen. Jetzt darf getanzt, gespielt und gefeiert werden. Aus dem braven Santiago de Cuba wird in wenigen Stunden das wilde, rhythmische, geheimnisvolle.

Während sich Touristen auf der Dachterrasse des Hotels Casa Granda noch über die friedliche Koexistenz zwischen sozialistischer Staatsgewalt und katholischer Kirche austauschen, stimmen auf dem Platz die Musiker des Stadtorchesters ihre Instrumente. In wenigen Minuten werden sie ihr traditionelles Konzert mit der Intonierung der Nationalhymne beginnen. Die Bürgerschaft flaniert bereits im Sonntagsstaat. Die rote Leuchtschrift an der Fassade des Bankgebäudes informiert über Datum und aktuelle Temperatur: 30 Grad Celsius. Willkommen auf dem abendlichen Parque Céspedes, dem zentralen Platz der östlichen Metropole Kubas.

Abneigung gegen Gängeleien aller Art

Die zweitgrößte Stadt der Tropeninsel kommt auf den ersten Blick provinziell daher, aber ihre Bewohner haben es faustdick hinter den Ohren. Seit Jahrhunderten haben sie einen Perfektionismus darin entwickelt, den Staat auszutricksen und möglichst keine Abgaben zu zahlen. Das begann bereits sieben Jahre nach der Gründung der kleinen Siedlung an der von hohen Bergen umgebenen malerischen Bucht. Bayamo verlor den Status als Hauptstadt und Bischofssitz an das strategisch günstiger gelegene Santiago. Plötzlich sahen sich nicht nur die ersten Siedler, sondern auch Vizegouverneur und Stadtgründer Diego Velázquez von der spanischen Bürokratie bedrängt. Die königlichen Beamten wachten aufmerksam darüber, daß die Krone ihren Anteil am prosperierenden Handel, an den Goldfunden, an der Kupfergewinnung und am Verkauf von Rinderhäuten erhielt. Die Einheimischen – einschließlich Bürgermeister, Geistlichkeit und Militär – wollten jedoch von ihren einträglichen Geschäften nicht lassen, wurden Schmuggler, kooperierten zur Gewinnmaximierung sogar mit Piraten.

Die Abneigung gegen Gängeleien aller Art sowie der unbedingte Freiheitswille haben sich seitdem zu einer grundlegenden Eigenschaft der Santiagueros entwickelt. Dazu kommt die Neugier auf alle Fremden, eine bedingungslose Gastfreundlichkeit und ein beinahe kindlicher Stolz auf ihre Stadt. Zu letzterem gehören die vielen Titel, die monarchistische und republikanische Landesherren Santiago verliehen haben: Es darf sich laut königlichem Dekret „als sehr edel und loyal“ bezeichnen, als gastfreundlich, angesehen und heldenhaft. Das „gastfreundlich“ bezieht sich nicht etwa auf die Touristen, sondern auf französische Farmer, die 1791 samt ihrer Sklaven hierher vor der blutigen Negerrevolution in Haiti flüchteten, mit offenen Armen aufgenommen wurden und den Einheimischen das Wunder der Kaffeebohnen schenkten.

Die zahlreichen Freiheitskämpfe sowie der Alltag einer aufgeklärten, toleranten Gesellschaft brachten es mit sich, daß in Santiago, im Gegensatz zu den westkubanischen Städten, ein buntes Völkergemisch entstanden ist. Die Menschen haben indianische, afrikanische, europäische und asiatische Wurzeln. Rassismus ist unbekannt. Alle sind sie vor allem stolze Nationalisten: Kubaner eben und die leidenschaftlichsten der Insel.

Die Gebrüder Castro haben der Stadt nach dem Sieg der Revolution den Antonio-Maceo-Orden und Titel „Held der Republik Kuba“ verliehen. An der weißen Rathausfassade sind die kupfernen Medaillen angeschraubt. Dazwischen ragt der Balkon, auf dem Fidel Castro am 1. Januar 1959 seinen Triumph verkündete und Santiago de Cuba vorsichtshalber – die Lage in Havanna war nach der Flucht Batistas noch unklar – zur Hauptstadt ernannte.

Bis heute lassen sich Fidel Castro in Santiago und sein Bruder Raul Castro in der noch weiter östlich gelegenen Provinzstadt Mayari Arriba wählen. Die erfahrenen Diktatoren wissen: Alle revolutionären Umstürze haben hier in Oriente ihren Ausgangspunkt gehabt. Da mag die Opposition in Havanna noch so sehr von den westlichen Medien aufgewertet werden, solange sich unter den Santiagueros kein nennenswerter Widerstand regt, kann die sozialistische Regierung beruhigt die neue Politik des langsamen Wandels von Präsident Castro umsetzen: „Sin prisa pero sin pausa.“

Der Schlüssel, um Kuba zu verstehen, liegt in Santiago. In diesem Sommer bietet die Metropole ungewohnt tiefe Einblicke. Schließlich feiert sie den 500. Jahrestag ihrer Gründung. Das exakte Datum wurde auf den 25. Juli festgelegt. Am nächsten Tag wird dann des Jahrestages des mißglückten Sturms auf die Moncada-Kaserne gedacht, der 1953 einen jungen Anwalt namens Fidel Castro weltberühmt machte und dessen Datum die Geburtsstunde der revolutionären „Bewegung 26. Juli“ wurde. Anschließend gerät ganz Santiago außer Rand und Band: Eine Woche wird Karneval gefeiert.

Zum Jubiläum hat die Regierung der Stadt ein neues Kleid verordnet. Seit Monaten werkeln Brigaden von Arbeitern an den historischen Gebäuden, wird repariert, saniert oder zumindest neu getüncht. Auf den Zwillingstürmen der vom Tropensturm „Sandy“ arg beschädigten Hauptkathedrale sind die Kreuze neu gerichtet. Schon verloren geglaubte Objekte wie das Hotel „Imperial“ oder die ehemalige „Bank of Canada“ werden hergerichtet. Neue Aussichtspunkte, Restaurants und Bars entstehen. Und wieder geht es um einen Titel, einen vor Jahren verlorenen: „Die Stadt mit Blick auf das Karibische Meer.“

Deswegen soll, während chinesische Firmen ein Stück weiter gerade für 120 Millionen Dollar den nach Mariel bei Havanna zweitgrößten Frachthafen errichten, sogar ein Malecón, eine Uferpromenade, angelegt werden. Wo heute Fahrradtaxis und Kutschen den Nahverkehr aufrechterhalten, soll bald eine Straßenbahn fahren. Diese wird fast bis an den Friedhof Santa Ifigenia führen, einem Juwel der Grabkunst, auf dem vieler Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Wissenschaft, aber auch Kämpfern aus den zahlreichen Befreiungskriegen mit besonderen Grabmalen gedacht wird. Die Asche von José Marti, des kubanischen Nationalhelden, wird in einem speziellen Mausoleum aufbewahrt, vor dem halbstündlich eine feierliche Wachablösung inszeniert wird.

Die kulturelle Vielfalt der Stadt entdecken

Gruppenreisende, sofern es sie überhaupt in den Osten der langgestreckten Insel verschlägt, bleibt meistens wenig Zeit für die alte Provinz Oriente und ihre Metropole. Sie landen am späten Nachmittag auf dem Flughafen Holguin und kommen nach zwei- bis dreistündiger Busfahrt abends in ihrem Hotel in Santiago an. Am nächsten Morgen gibt es einen Spaziergang, bei dem ein Reiseleiter über Plaza de Marte, Plaza de Dolores und die Einkaufsstraße Enramada – mit den wunderbaren Werbeschildern aus vorrevolutionären Zeiten – zum Céspedes-Parque führt. Vielleicht gibt es sogar einen kurzen Abstecher zur Calle Padre Pico, deren steile Treppe die Ober- mit der Unterstadt verbindet. Dann aber geht es schon wieder zurück über die Heredia-Straße mit der Casa de la Trova und dem Karnevalmuseum zum Hotel, weil der Plan die Weiterfahrt per Bus oder Flugzeug in Richtung Westen vorsieht, wo das koloniale Trinidad, die Hauptstadt Havanna oder die Sandstrände von Varadero locken.

Wer aber länger als eine Nacht bleibt, entdeckt die kulturelle Vielfalt einer lebendigen Stadt, die einen vielleicht das ganze Leben nicht mehr losläßt. Es lohnt sich, einfach tagsüber durch Santiago zu schlendern, die zahlreichen Gedenkplaketten an den Häusern zu studieren, den Straßenmusikern zu lauschen, sich in eines der zahlreichen Cafés zu setzen, die Santiagueros in ihrem Alltag zu beobachten oder sich über eine zufällig entdeckte, spontan angesetzte Tanzshow auf der Straße zu freuen. Das eigentliche Zentrum, in dem etwa 80.000 der 500.000 Santiagueros wohnen, umfaßt lediglich 3,2 Quadratkilometer und besteht vor allem aus einstöckigen Gebäuden aus der Kolonialzeit.

Herausgeputzt hat sich die Plaza de Marte. Der einstige Hinrichtungsort ist die höchste Stelle der Altstadt und konkurriert längst mit dem tiefer gelegenen Cespedes-Parque. Hier gibt es neben kleinen Restaurants neuerdings ein Schokoladengeschäft, wo Eiscreme, Torten und Milchschokoladen aus eigener Produktion angeboten werden, und eine Haus des Weines. Neben Wein aus Trauben läßt sich einiges verkosten, was die Santiagueros aus Zuckerrohr, Süßkartoffeln, Tomaten und Rosinen zum Gären gebracht haben. Nachts lockt der Jazzclub Iris.

Je nach Interesse sollten Reisende die Moncada-Kaserne besuchen oder einen Ausflug zur Festung San Pedro de la Roca del Morr unternehmen. Die zum Weltkultuerbe gehörende Anlage sollte einst den Zugang zur Bucht von Santiago schützen. Ein Muß ist auch ein Besuch der Wallfahrtskirche El Cobre. Sie befindet sich am Rand einer Kupfermine und ist der Nationalheiligen, der wundertätigen Virgen de la Caridad geweiht.

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