© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Vom Trieb getrieben
Peinliche Befragungen: Mathieu Amalric hat mit „Das blaue Zimmer“ einen Roman des Schriftstellers Georges Simenon verfilmt
Sebastian Hennig

Zwischen Ambition und Notdurft bewegt sich das Leben der meisten Künstler. E. T. A. Hofmann zweiteilte sein Werk einerseits in reißerische Schauergeschichten zum Broterwerb, wie „Das öde Haus“ und „Hyänen“, andererseits in die nicht allein phantastische, sondern auch phantastisch gute Literatur wie „Der goldene Topf“ und „Meister Floh“. Auf ähnliche Weise erlangte Georges Simenon mit seinen Romanen um den Kriminalkommissar Maigret die Verkaufserfolge, während er mit anderen Erzählungen sogar auf den Literaturnobelpreis zu hoffen wagte.

1963 schrieb der sechzigjährige Autor in der Schweiz an einem solchen „Non Maigret“-Roman. „Das blaue Zimmer“ spiegelt eine entschieden misogyne Haltung wider, die ihn damals wohl während einer besonders problematischen Zeit mit seiner Ehefrau anwandelte. Im Buch wird die Liebe des Mannes zum Weib als asoziale Wahnvorstellung vorgeführt. Das ist allerdings eine vertraute Blickweise. William Shakespeare und Gottfried von Straßburg haben von Romeo und Julia und Tristan und Isolde nichts anderes berichtet. Wenn sich der Mann rückhaltlos seinem Trieb hingibt, dann mündet das in eine Fernsteuerung durch fremden Willen und endet nicht selten mit Mord und Totschlag.

Mathieu Amalric hat das Buch nun verfilmt. Er verkörpert zugleich Simenons Tristan-Gestalt, die hier Julien

Gahyde heißt. Als dessen Geliebte Esther Despierre steht ihm Stéphanie Cléau zur Seite, mit der er auch gemeinsam das Drehbuch von „La chambre bleue“ verfaßte. Amalric bezeichnet die Buchvorlage als einen „Roman, der Sexualität bestraft (…) Und das versuchte ich mit Stéphanie Cléau, mit der ich den Roman adaptierte, auszuradieren.“ Inwieweit das gelungen ist, liegt im Auge des Betrachters.

Die Drehbuchautoren erstellten mit der Hilfe von forensischen Wissenschaftlern vom fiktiven Fall eine echte Akte. Die erweiterten Möglichkeiten im Vergleich zum Stand von 1963 wurden dabei berücksichtigt. Doch das sind Nebensachen der Inszenierung und Ausstattung. Wesentliche Züge bleiben davon unberührt.

Das Geschehen spielt in einer Kleinstadt. Ein zum Trocknen ausgehängtes Handtuch im Fenster dient als Signal für die Verabredung, als Liebesnest ein blaues Zimmer im Hotel. Simenon legt dieser sexuellen Konspiration auf seiten des Mannes infantile Züge bei: „Das Zimmer war blau, blau wie Lauge, hatte er eines Tages gedacht; ein Blau, das ihn an seine Kindheit erinnerte, an die kleinen Etaminbeutel mit blauem Pulver, die seine Mutter vor dem letzten Spülen in den Zuber schüttete, bevor sie die Wäsche auf dem leuchtenden Gras der Wiese auslegte. Er mußte damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, und hatte sich gefragt, durch welches Wunder die blaue Farbe die Wäsche weiß machte.“

Das gefährliche Weib in der blauen Kammer beißt dem Mann in die Lippe, bis Blut kommt. Sie fragt: „Liebst du mich Julien?“ Er darauf: „Ich glaube schon.“ Nicht nur dabei sieht Monsieur Gahyde recht dämlich aus. Er ist ein von seinem Trieb getriebener Mensch und wird schließlich dadurch aus dem Stand der Freiheit vertrieben.

In der nächsten Szene schlurft er ohne Schnürsenkel in den Schuhen vor den Schreibtisch des Kommissars. Dabei hätte diese labile Figur eigentlich viel früher schon vor sich selbst geschützt werden müssen. Seine schöne blonde Frau Delphine (Léa Drucker) hat es nicht vermocht. Die Verhöre, Gegenüberstellungen und die Haftsituation bilden den Ausgangspunkt für die Rückblenden in das vorangegangene Geschehen. Nach und nach enthüllt sich das Schreckliche, was hier passiert ist.

Es ist ein Film über das Mannsein als Schwäche. Im Hotel wird Leidenschaft zelebriert, während im Ehebett die Panik der Leere herrscht. Neben einer abschreckend hustenden Frau kauert ihr Gatte unter dem Laken wie das mumifizierte schlechte Gewissen. Der dauernd Schuldbewußte schleicht gespenstig durch das todschicke und sterile Haus. Beim Abschiedskuß kleckert rote Marmelade vom Messer auf weißes Küchengerät, so wie der Blutstropfen von der Bißwunde auf das Laken im blauen Zimmer.

Das Verbrechen ist nicht allein Vergehen am Opfer, sondern Frevel am Gefüge der gesellschaftlichen Ordnung, die dem Umgang der Menschen untereinander Halt bietet. Beim Doppelverhör von Gahyde und Despierre kommt es zu einem Übergriff. Ihm fehlt die Konsequenz zum Bösen wie zum Guten. Selbst der Anwalt wird irre an dem Fall. Er starrt durch das Vernehmungszimmer, das ihm zwischen dicken Ordnern selbst zur Arbeitszelle geworden ist, nachdenklich hinaus in den Regen. Auch der Zuschauer wird bis zuletzt in der Ungewißheit belassen.

Um die eigenartige Verschränkung der Handlungsebenen und der Erkenntnisgrade zu gewährleisten, wurde mit dem Filmschnitt schon während der Dreharbeiten begonnen. Bedeutungsvoll ist auch das Format. Es scheint eine Cinemascope-Müdigkeit unter frankophonen Filmschaffenden zu geben. Der Kanadier Xavier Dolan drehte unlängst seinen Film „Mommy“ ganz im Quadrat und Amalric zeigt seine und Simenons Geschichte nun im 4:3-Format. Das sind offenbar äußere Anzeichen ästhetischer Distanzierung von Hollywoods Anspruch, den Betrachter mit einem umfassenden Weltbild einzuhüllen.

Das Drama mündet in eine feierliche Gerichtszene. Die spielt wie ein Theaterstück in einem klassizistischen Saal mit strenger Säulenordnung, Holzvertäfelung. Auf den Roben der Richter prangt der Hermelinbesatz. Auch in diesem Zimmer sind die Wände blau abgespannt.

Kinostart: 2. April 2015

www.arsenalfilm.de

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