© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Demokratie im Zeitalter supranationaler Strukturen
Der Souverän ist lästig
Björn Schumacher

Deutsche Großkoalitionäre rüsten zum Endkampf gegen ihre Hauptgegner. Wolfgang Schäuble, kein altersweiser Verfechter des feinen Floretts, schmähte die AfD als „Schande für Deutschland“. Der profil­arme Justizminister Heiko Maas attackierte wortgleich die Bürgerbewegung Pegida. „Ein breites Bündnis“ (angeblicher) zivilgesellschaftlicher Autoritäten forderte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, private Stiftungen und Lobbyverbände müßten die AfD bekämpfen. In moralisierender Hybris beschwor die SPD-Frau den Popanz des „Rechtspopulismus“.

Dieser Kautschukvorwurf ist eine subtile Neuauflage der brüchig gewordenen Nazikeule. Er soll Standpunkte dämonisieren, die dem Juste Milieu der Nationalallergiker und Kulturrelativisten unsympathisch sind. Wer „Popu-lismus“ sagt, will den Populus, das deutsche Volk, maßregeln. Bundesdeutsche Funktionseliten führen einen Zweifrontenkrieg: zum einen gegen die AfD und ihr nahestehende Sammlungsbewegungen, zum anderen gegen die praktische Vernunft des deutschen Normalbürgertums, dessen schärfste Waffe eine funktionierende Volksherrschaft wäre.

Zwangsläufig sind nationalskeptische Politiker keine Freunde lebendiger Demokratie. Versuche solcher Meinungsfürsten, „das Spektrum akzeptabler Positionen strikt zu beschränken“, beunruhigten schon den US-Gelehrten Noam Chomsky. Der britische Politologe Colin Crouch vertiefte das am Leitfaden der Postdemokratie – einem „Gemeinwesen, in dem noch Wahlen abgehalten werden, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über Probleme diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben“.

Läßt sich die Volksherrschaft aber auch staats- oder EU-rechtlich beseiti-gen? Ins Blickfeld rücken zwei Wege: ein offener, auf unmittelbare Beseiti-gung zielender und ein verdeckter mit Langzeitwirkung.

Die erste Variante liefe auf ein förmliches Außerkraftsetzen der Demokratie hinaus – etwa durch eine Verfassung nach Art. 146 GG, die zum Türöffner eines souveränen EU-Superstaats werden könnte. Allerdings müßte die Verfassung „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“ werden (Art. 146 GG letzter Teilsatz). Bloße Grundgesetzänderungen zur Beschränkung des Demokratieprinzips scheiden wegen Art. 20 Abs. 1 und 2 (Republik, Demokratie, Bundesstaat und Sozialstaat) und Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) aus.

Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 stürzten sich die großen Feuilletons auf Art. 146 GG. Die als zu aka-demisch empfundene Diskussion verebbte rasch.

Alternativ könnten volksferne Eliten – am Grundgesetz vorbei – einen Staatsstreich zur Beseitigung der Demokratie einfädeln. Dagegen hätten indes „alle Deutschen das Recht zum Widerstand“ (Art. 20 Abs. 4 GG). Zwar steht das Widerstandsrecht unter Subsidiaritätsvorbehalt – „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“ – und müßte auch in der Wahl der Mittel verhältnismäßig sein. Allerdings ginge es hier um den Kern der freiheitlichen Grundordnung. An der Zulässigkeit von Straßen- und Gebäudeblockaden sowie Arbeitsniederlegungen bis hin zum Generalstreik dürften keine Zweifel bestehen.

Eine offen propagierte Beseitigung der Demokratie geriete rasch unter Extremismusverdacht, zudem wäre das Widerstandspotential eines selbstbewußter werdenden Volkes unberechenbar. Häufiger als klare Absagen sind daher Relativierungen ihres Geltungsanspruchs.

Zudem geriete ein offen propagierter Ausstieg aus der Demokratie rasch unter Extremismusverdacht. Solcher Kritik sah und sieht sich etwa die „Konservative Revolution“ der 1920er Jahre, eine lose Gruppierung republikfeindlicher Strömungen, ausgesetzt. Mehr Sympathie bei staatstragenden Eliten fand Demokratiekritik von links, wie sie der ethische (nichtmarxistische) Sozialist und Philosoph Leonard Nelson verbreitete („Demokratie und Führerschaft“, 1919 ff.).

Häufiger als klare Absagen an die Demokratie sind daher Relativierungen ihres Geltungsanspruchs. Erschüttert von der NS-Tyrannei, bekannte Gustav Radbruch, neukantianischer Rechtsphilosoph, Strafrechtler und Reichsjustizminister (1921/23): „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat ist aber wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“

Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat prägt im Kern auch aktuelle Debatten. Linksliberale stellen die Interessen religiöser und sexueller Minderheiten („Rechtsstaat“) über die Mehrheitsmeinung des Volkes (Demokratie). Anders als Radbruch nennen sie den Konflikt aber nicht beim Namen. Der Grund liegt nahe. Während Radbruch unter „Rechtsstaat“ ele-mentare Menschen- und Bürgerrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe verstand, wollen neudeutsche Gleichheitsjünger fragwürdige „Teilhaberechte“, also Umverteilungswünsche, befriedigen.

Pläne zur förmlichen Beseitigung der Demokratie könnten dabei stören. Das Widerstandspotential eines selbstbewußter werdenden Volks wäre unbere-chenbar. Näher liegt demnach der zweite Weg. Politmediale Eliten könnten sich zur Volkssouveränität bekennen, mit Hilfe eines verformten Demokratiebegriffs die wahren postdemokratischen Herrschaftsverhältnisse aber geschickt verschleiern. Extremes Vorbild wäre jener Unrechtsstaat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Einiges spricht dafür, daß dieser Weg längst beschritten wird.

Anschaulich demonstriert das eine Galionsfigur der „Political Correctness“, Claudia Roth, die den Demokratiebegriff aus seinem staatsrechtlichen Bezug löst und fragwürdige linksgrüne Utopien von Gerechtigkeit beziehungsweise Gleichstellung hineinschmuggelt. „Gute Demokraten“ sind für Roth Multikulturalisten und Feministen, die (vermeintliche) „Nazis“ blockieren. Polizeieinsätze zum Schutz der Versammlungsfreiheit geißelt Roth als „Anschlag auf die Demokratie“.

Gefährlicher als solche durchsichtigen Manöver ist die suggestive Demokra-tierhetorik der Europäischen Union. Art. 20 des Vertrags über die Arbeits-weise der EU (AEU-Vertrag) ernannte die Bürger der Mitgliedstaaten kurzer-hand zu „Unionsbürgern“. Der harmlos klingende Rechtsbegriff soll auf einen souveränen EU-Superstaat mit eigenen (Staats-)Bürgern einschwören.

Dieser Internationalismus hat Methode; bereits die Vorläufer der EU haben das Demokratieprinzip sabotiert. In zwei Entscheidungen vom 5. Februar 1963 („Van Gend & Loos“) sowie 15. Juli 1964 („Costa/Enel“) entwickelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die kühne These, die Römischen Ver-träge seien unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten mit „absolutem Vorrang“ vor dem nationalen Recht. Als Blaupause diente eine vom EuGH auf wirren methodologischen Pfaden ersonnene „eigenständige Rechtsordnung der Verträge“, die damit der engen, von der Staatssouveränität begrenzten Auslegung des Völkerrechts entzogen wurden.

Normale völkerrechtliche Verträge wurden also über die juristische Hinter-treppe in den Rang einer Quasi-Verfassung erhoben – von einer bürokratienahen Richterelite, die sich kaum als Hort unabhängiger Wahrheitsfindung und schon gar nicht als Hüter der Volkssouveränität, sondern als „Motor der europäischen Integration“ begreift. Seinerzeit kaum bemerkt, war das der Auftakt zu einem schleichenden supranationalen Staatsstreich. Weitere Kompetenzanmaßungen des EuGH folgten.

Nächster Sündenfall war die Einheitliche Europäische Akte vom Februar 1986, die das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat der Union aushebelte. Einfaches EG-/EU-Recht kommt seitdem durch qualifizierte Mehrheiten der Mitgliedstaaten zustande. Geschickt verschleiert das Wort „Mehrheitsbeschluß“ eine Abkehr von der Demokratie.

Bloße Sympathien für Völker, Sprachen oder Gebräuche können den „gemeinsamen Willen“ oder die Kulturgemeinschaft nicht ersetzen. Die Losung „Wir sind Europäer“ symbolisiert die erfreuliche Kooperation einst verfeindeter Nachbarn; alles Weitere ist Utopie.

Wo bleibt die Volkssouveränität, wenn ein Mitgliedstaat Gesetzgebungsakten unterworfen wird, die in seinem nationalen Parlament nie debattiert oder sogar – im Parlament oder per Referendum – abgelehnt worden waren? Was ist die demokratische Kontrolle einer Staatsregierung wert, wenn diese von einem keiner Kontrolle unterliegenden EU-Ministerrat überstimmt werden darf?

Höhepunkt pseudodemokratischer List ist aber das Europäische Parlament. Dort werden bereits Grundelemente gemeinschaftlicher Willensbildung ver-leugnet. Bei „Parlamentswahlen“ gibt es kein Gleichgewicht der Stimmen, da nach Mitgliedstaaten getrennt gewählt wird und die Abgeordnetenkontingente die Zahl der „Unionsbürger“ in den einzelnen Staaten nicht spiegeln. Die Stimme eines Luxemburgers zählt zehnmal mehr als die eines Deutschen.

Zudem wählen die „Unionsbürger“ nationale Parteien ohne Fraktionsstatus im EU-Parlament. Dort agieren supranationale Bündnisse, die an keiner Willensbildung von unten nach oben mitwirken. Einen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker fand kein Deutscher auf seinem Stimmzettel. „Der demokratienotwendige Delegations- und Verantwortungszusammenhang zwischen Wahl und Parlamentsarbeit“, mahnte der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, „ist in Europa unterbrochen.“

Vor allem aber vertritt das Europaparlament keinen souveränen Demos als notwendigen Akteur einer Volksherrschaft. Dieser Demos läßt sich auch nicht per EU-Rechtsakt künstlich schaffen, etwa unter dem Etikett eines „europäischen Staatsvolks“. Der Begriff Volk fand seine rechtsethische Prägung in einem aufgeklärten, als verbindlich interpretierten Vernunftrecht. Er markiert eine Sprach-, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft, die ihre Angelegenheiten in einem Prozeß freier, gemeinsamer und öffentlicher Willensbildung regeln will.

In seinem Essay „Angst vor dem Volk“ (JF 31-32/14) nähert Konrad Adam sich dem Thema in historischer Perspektive. Ein neuer, vom „gemeinsamen Willen“ getragener Demos habe sich im revolutionären Freiheitskampf der Nord­amerikaner, nicht aber in der bürokratischen EU herausgebildet. Bloße Sympathien für fremde Völker, Sprachen oder Gebräuche ändern daran nichts. Sie können die Merkmale „gemeinsamer Wille“ beziehungsweise Kultur- und Schicksalsgemeinschaft nicht ersetzen. Die allgegenwärtige Losung „Wir sind Europäer“ symbolisiert die erfreuliche Kooperation einst verfeindeter Nachbarn; alles Weitere ist Utopie.

Deutsche sind, im Sinne des Demokratiebegriffs, auf sehr lange Sicht keine „Europäer“. Sie wünschen sich durchaus eine engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn Frankreich und Polen, wie eine repräsentative Umfrage von TNS Infratest vor einem knappen Jahr ergab; auch interessieren sich 56 Prozent der Deutschen stark oder zwölf Prozent sogar sehr stark für Außenpolitik. Aber ungeachtet dessen lehnt eine klare Mehrheit von 80 Prozent einen EU-Bundesstaat ab (laut Forsa-Umfrage von 2012).

Pikanter Befund: Die deutsche Demokratie wird weiter abgeräumt, der Popanz einer europäischen Demokratie aktionistisch herbeigeredet oder – als ginge es um banken- oder aktienrechtliche Formalitäten – für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt. Wem nutzt das? Sind Hinweise auf ein weltweites Machtkartell aus Hochfinanz, Schlüsselindustrien und Geheimdiensten, dem „Systempolitiker“ und „Leitmedien“ willig zuarbeiten, doch keine wirre Verschwörungstheorie? Arnulf Barings Weckruf ist aktueller denn je: „Auf die Barrikaden, Bürger!“

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Genderfeminismus und Grundgesetz („Recht ist nicht Mode“, JF 14/14).

Foto: Das deutsche Grundgesetz – für den mythologischen Stier Europas ein rotes Tuch? Suggestive Demokratierhetorik mit Langzeitwirkung

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