© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Katyn ist nur ein Synonym
Vor 75 Jahren begannen die sowjetischen Massaker an polnischen Kriegsgefangenen
Wolfgang Kaufmann

Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 wurden die Interessensphären des Dritten Reiches und der Sowjet-union abgegrenzt: Für den Fall, daß es „territorial-politische Umgestaltungen“ gebe, solle die UdSSR die Möglichkeit erhalten, sich Finnland, Lettland und Estland, die östliche Hälfte Polens sowie Bessarabien einzuverleiben und zu sowjetisieren. Und genau das tat sie dann auch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Am 17. September überquerten Truppenverbände der Weißrussischen und Ukrainischen Front die polnische Grenze und stießen innerhalb weniger Tage bis zur deutsch-sowjetischen Demarkationslinie im Bereich der Flüsse Narew, Weichsel und San vor. Dem folgte der von Moskau angezettelte finnische Winterkrieg, an dessen Ende Finnland weite Teile Kareliens abgeben mußte. Und dann kam es im Juni 1940 außerdem noch zur Besetzung der baltischen Staaten (nunmehr sogar einschließlich Litauens) sowie der Gebiete an Pruth und Dnister, welche nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallen waren.

Mordaktion an den Polen erfolgte auf höchsten Befehl

Dabei etablierten die Besatzer in den annektierten Gebieten sofort ein Unrechtsregime stalinistischer Prägung. So fanden umfangreiche ethnische Säuberungen beziehungsweise Deportationen statt, flankiert von der massiven Verfolgung von Großbauern und Vertretern der bürgerlichen Eliten. Ganz besonders schlimm traf es Polen, wo die Rote Armee 52 Prozent des Staatsgebietes besetzt und damit ein Drittel der polnischen Bevölkerung zu Untertanen des Kreml gemacht hatte. Im Bestreben, jedwede Form von „konterrevolutionären“ und „antisowjetischen“ Aktivitäten zu unterbinden, verhaftete der Staatssicherheitsdienst NKWD über 120.000 Menschen und veranlaßte zudem die Verschleppung von mindestens 330.000 polnischen Bürgern in die UdSSR – wie viele es genau traf, läßt sich heute nicht mehr eruieren.

Zudem waren 250.000 polnische Soldaten und Offiziere in die Hände der Roten Armee gefallen. Diese sollten gemäß eines Beschlusses des Politbüros der KPdSU vom 19. September 1939 zum Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft der Sowjetunion herangezogen werden. Deshalb richtete das NKWD acht Kriegsgefangenenlager ein, in denen nach Entlassung vieler niederer Dienstgrade und der Übergabe von Gefangenen aus Westpolen an die Wehrmacht noch 39.600 Mann verblieben.

In drei Fällen handelte es sich dabei um Speziallager für Offiziere, welche man für doppelt gefährlich hielt: zum einen wegen ihrer Loyalität gegenüber dem polnischen Staat, zum anderen wegen der Tatsache, daß es sich oft um Reservisten handelte, die bürgerlich-intellektuelle Berufe wie Journalist, Arzt, Anwalt, Ingenieur oder Künstler ausübten. Auf Befehl des NKWD-Chefs Lawrenti Berija vom 3. Oktober 1939 wurden etwa 5.000 höhere Chargen der polnischen Armee im Lager Koselsk bei Kaluga interniert, der Rest, darunter auch Polizisten und Grenzschützer, kam nach Starobilsk in der Ukraine sowie nach Ostaschkow auf der Insel Stolobny im nordrussischen Seligersee.

Anschließend machten sich Verhörspezialisten der NKWD an die Aufgabe, die politische Einstellung der Festgehaltenen zu erfassen. Über die Ergebnisse dieser Untersuchung schrieb Berija am 5. März 1940 in seiner Aktennotiz 794/B für Stalin: „Die kriegsgefangenen Offiziere und Polizisten in den Lagern versuchen, ihre konterrevolutionären Aktivitäten fortzusetzen und antisowjetische Agitation zu betreiben. Sie alle warten nur darauf freizukommen, um sich aktiv am Kampf gegen die Sowjetmacht zu beteiligen.“ Deshalb plädierte Berija für die „Anwendung der Höchststrafe: Tod durch Erschießen“, und zwar nach „Sonderverfahren (...) ohne Vorladung der Inhaftierten und Darlegung der Beschuldigungen“, wobei diese von einer Troika, bestehend aus den NKWD-Größen Bogdan Kobulow, Wsewolod Merkulow und Leonid Baschtakow, abgewickelt werden sollten.

Noch am selben Tage stimmten Stalin sowie die Politbüromitglieder Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan dem Vorschlag des NKWD-Chefs zu, womit faktisch schon das Todesurteil über die insgesamt 14.700 Kriegsgefangenen in den Lagern Koselsk, Starobilsk und Ostaschkow gefällt war; darüber hinaus sollten aber auch noch 11.000 weitere Vertreter der polnische Elite, die in der West-ukraine und Weißrußland einsaßen, liquidiert werden.

Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute ungeklärt

Die vom Kreml abgesegnete Mordaktion (später erklärten dann übrigens auch noch Lasar Kaganowitsch und Michail Kalinin ihr formelles Einverständnis) stand unter der Aufsicht von Berias Stellvertreter Merkulow und dauerte vom 3. April bis zum 19. Mai 1940. Zuvor fand am 15. und 16. März eine Konferenz der Lagerkommandanten statt, in deren Verlauf der Chef der NKWD-Lager, Pjotr Soprunenko, über den geplanten Ablauf „des Abtransports der Kriegsgefangenen nach ergangenem Urteil“ informierte. An selbigem Treffen nahmen auch die designierten Henker teil, welche die polnischen Häftlinge mit aufgesetzten Genickschüssen beseitigen sollten. Diese kamen vielfach aus der Moskauer NKWD-Zentrale, wie die in den Akten namentlich erwähnten Leutnants Josef Gribow, Timofej Kuprij, Nikita Melnik und Andrej Rubanow. Deren Vorgesetzter war der berühmt-berüchtigte Major Wassili Blochin, der bereits seit 1924 Hinrichtungen von „Staatsfeinden“ durchführte und dabei schon mehr als 40.000 Menschen eigenhändig getötet hatte.

Blochin erschoß dann wahrscheinlich auch den größten Teil der Insassen aus dem Lager Ostaschkow, deren Leichen in Mednoje bei Kalinin verscharrt wurden. Dahingegen starben die Offiziere aus Starobilsk im NKWD-Gefängnis von Charkow. Der 20 Kilometer westlich von Smolensk gelegene Wald von Katyn, welcher immer in aller Munde ist, wenn von der sowjetischen Mordaktion gesprochen wird, war also beileibe nicht der einzige Exekutionsort, sondern nur der Platz, an dem man die Verurteilen aus Koselsk erschoß.

Wie viele Polen dabei am Ende wirklich ihr Leben lassen mußten, ist bis heute ungeklärt: Soprunenkos Statistik vom 25. Mai 1940 belegt 14.192 liquidierte Personen aus den drei genannten Lagern. Doch wie viele Häftlinge traf es sonst noch? Kann man der Auflistung des KGB-Chefs Alexander Schelepin vom 3. März 1959 trauen, wonach 14.552 Offiziere und 7.305 weitere Vertreter der polnischen Bourgeoisie zu Tode kamen? Sollte die „Planerfüllung“ bei der Bekämpfung des „Klassenfeindes“ tatsächlich unter den Vorgaben aus Moskau gelegen haben?

Das ist kaum glaubhaft, wenn man den Umstand bedenkt, daß die Mörder im Anschluß auf vielfältige Weise belohnt wurden: 124 unmittelbar Tatbeteiligte erhielten Geldprämien in Höhe eines Monatsgehalts oder kassierten gar die seinerzeit schwindelerregende Summe von 800 Rubeln. Dazu hagelte es Beförderungen: So wurde Blochin in der Folgezeit Generalmajor, wobei ihm dieser Rang nach dem Tode Stalins allerdings wieder aberkannt wurde. Und Merkulow brachte es 1943 sogar zum Volkskommissar für Staatssicherheit der Sowjetunion. In dieser Eigenschaft sorgte er dann für die dreisten Fälschungen während des Nürnberger Prozesses, mit denen man die Morde an den polnischen Offizieren der deutschen Seite anlasten wollte.

Heute gilt Katyn als Symbol für die sowjetischen Verbrechen während der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs, wobei die Bluttat von 1940 aber keineswegs singulär war. Denn als die deutschen Truppen im Zuge des „Unternehmens Barbarossa“ in die Gebiete vordrangen, welche Stalin zuvor im Einklang mit dem Geheimprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt besetzt hatte, kam es zu weiteren Massakern in Ostpolen sowie auch dem Baltikum und Bessarabien. Allerdings bestand hier ein wesentlicher Unterschied zur Erschießung der polnischen Offiziere und Intellektuellen: Bei dieser ging es um die ideologisch inspirierte Vernichtung von Angehörigen einer unerwünschten sozialen Schicht, ohne daß sich die UdSSR irgendwie in der Defensive befand. Deshalb gemahnt der kaltblütige „Klassenmord“ von Katyn eher an das Agieren der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD, welche im Rücken der siegreichen deutschen Wehrmacht Rassenmord betrieben.

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