© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Wenn das Stadtbild eine Botschaft hat
Ein bemerkenswerter Band reflektiert konservative und avantgardistische Modelle urbaner Planungen
Walter Spatz

In seinen „Betrachtungen über die französische Revolution“ von 1790 erinnerte Edmund Burke (1729–1797) daran, daß ein Verbesserungsprinzip stets an ein Erhaltungsprinzip gebunden bleiben müsse: „Leute, die nie hinter sich auf ihre Vorfahren blicken, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen. (...) Zu erwerben bleibt immer frei: aber was erworben ist, soll gesichert werden.“ Obwohl auf den Staat gemünzt, kann Burkes Haltung gut zur Untermauerung des Versuches dienen, den Wolfgang Sonne mit dem Titel „Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts“ unternimmt. Der Dortmunder Professor für Geschichte und Theorie der Architektur erteilt der Neuerung als Selbstzweck ebenfalls eine Absage und hält unter dem Motto „Verdichtung“ ein Plädoyer gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit relativistischer Stadtauflösung.

Das großformatige und reichlich bebilderte Buch ist klar strukturiert und von der ersten bis zur letzten Seite kohärent am roten Faden entwickelt. Sonne schildert seine Thesen kurz und bündig in der Einleitung und expliziert sie anschließend in fünf Kapiteln. Interessierte Laien als auch Bauforscher dürften zufrieden sein mit der stringenten Recherche und Darstellung jeweiliger Textstellen von Stadtplanern und Architekten aus Europa und den USA. Die Illustrationen mittels Lageplänen, Grundrissen, Schnitten, Ansichten und Fotografien runden die Kapitel wie das Werk insgesamt ab. Sonne behandelt den Baublock (1890–1940), die Plätze (1890–1940) und die Hochhäuser (1910–1950). Das vorletzte Kapitel dient der Unterscheidung von konventionellem und traditionalistischem Wiederaufbau seit dem Zweiten Weltkrieg (1940–1960), und an letzter Stelle erfährt die „Stadtreparatur“ zwischen 1960 und 2010 eine Würdigung.

Mit den beiden Begriffen „Verdichtung und Auflösung“ ist seit dem Wirken der Avantgarden um den Ersten Weltkrieg herum die gängige Polarität der Stadtbaumeister und Architekten in Deutschland beschrieben und die zugehörige Rollenverteilung ebenso. Gelten die Auflöser als progressiv, tragen die Verdichter das Kainsmal der Rückständigkeit – ein Muster, das den Konservativen bekannt sein dürfte. Sonne macht sich allerdings an die Neuordnung der Frontlinien, denn er bestreitet die gängige These, wonach das 20. Jahrhundert städtebaulich ausschließlich mit den beiden Zäsuren „Moderne sowie Postmoderne“ erklärbar wird und reklamiert statt dessen eine Kontinuität des verdichteten Bauens. Dabei liest er den Begriff der Urbanität kulturell, sozial oder baulich und verortet ihn strikt werthaltig.

Ein weiteres Mal läßt der Autor hier konservative Sichtweise durchblicken, denn er scheut sich nicht, das Städtische als etwas „Hinaushebendes“ zu deuten. In guter Gesellschaft mit Aristoteles’ Denken über die Polis hat die Stadt für ihn also etwas mit Verfeinerung, Kultivierung und harmonischem Zusammenleben zu tun. Eine dermaßen metaphysisch begründete Haltung ist freilich mit Idealität gesättigt, die nicht aus der Willkür des Individuums entspringen kann, sondern dieses selbst erst konstituiert. Eine Annahme, die die „Auflösungsfraktion“ bekämpft; ist bei ihr doch das Subjekt die einzige Bezugsgröße – eine, die allerdings ausschließlich in dessen jeweiliger Binnensphäre verbucht wird. Diese Art zeitgeistverbrämten Autismus gibt auch der Stadt das Maß, die nur noch als zusammenhangsloses Nebeneinander von Solitären gilt.

Was unterscheidet denn nun die verdichtete Stadt von der aufgelösten und wieso bezeugt letztere „die Krise des öffentlichen Raums“? Sonne zufolge durch das Abhandenkommen der Fähigkeit, in Kontexten – und damit Herkünften – zu denken oder zu planen. Der galoppierende Relativismus heutiger Zeit, dessen Anfang Edmund Burke in die Französische Revolution verlegt hat, will weder etwas von Tradition noch von Identität wissen. Auf die Architektur beziehungsweise die Stadt bezogen, bedeutet dies, daß das Vergangene für obsolet erklärt wird, das heißt, daß keine Straßenfluchten, keine Platzformen, keine Baulinien oder Gebäudehöhen, keine Fassadenstrukturen und keine Nutzungsbeschränkungen mehr das Maß geben.

Bewährtes mit dem noch Unerprobten verbinden

Alles soll variierbar werden und den jeweiligen Erfordernissen (Automobilisierung, Technisierung, Globalisierung, Konsumismus etc.) umstandslos ausgeliefert sein. Freilich ist Sonne umsichtig genug, zu wissen, daß das Credo eines Camillo Sitte (1843–1903): „Der Platz als Wohnzimmer der Stadt“ nicht die Antwort auf alle urbanen Planungsaufgaben sein kann. Diesbezüglich weiß er zu unterscheiden zwischen einer bejahenden Haltung zur Tradition als Referenzsystem und dem bloßen Fortsetzten des Konventionellen. Letzteres muß an immer neuen Herausforderungen scheitern. Es wäre das Erhaltungs- ohne das Verbesserungsprinzip und führte zum Stillstand. In der Tradition zu denken schafft hingegen den Spielraum, Brücken zwischen dem Bewährten und dem noch Unerprobten zu bauen. Brücken für die neue Stadt, die nicht im Gegensatz zur alten steht.

Wolfgang Sonne: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts. DOM publishers, Berlin 2014, gebunden, 360 Seiten, Abbildungen, 98 Euro

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