© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Pankraz,
J. W. Goethe und der Segen des Schattens

Mehr Licht!“ Das sollen nach vorherrschender Hagiographie die letzten Worte des sterbenden Goethe gewesen sein. In Wirklichkeit sagte er, wie heute in den Archiven festgehalten, zu seinem Kammerdiener: „Friedrich, den Nachttopf!“ Jetzt ist ein Buch erschienen, das die Konstellation auf eigentümliche Weise paraphrasiert: Olaf L. Müllers „Mehr Licht“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 544 Seiten, 26,99 Euro).

Der Band trägt den Untertitel „Goethe mit Newton im Streit um die Farben“ und referiert über weite Strecken die berühmte Affäre um Goethes Farbenlehre und seinen verbissenen, unermüdlichen Kampf gegen Isaac Newton und dessen exklusiv physikalische Theorie der Farben. Die Wissenschaftsgeschichte hat sich bekanntlich voll auf die Seite Newtons gestellt und Goethe sogar ein bißchen lächerlich gemacht. Aber Müller (49), Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität Berlin, rehabilitiert jetzt den Dichter, ja feiert ihn geradezu als großen physikalischen Experimentator.

Einige Autoren haben dergleichen auch schon früher versucht, Gottfried Benn etwa, Werner Heisenberg, Ernst Bloch. Sie alle argumentierten freilich gewissermaßen von der poetischen Seite her, suchten die von der Physik beanspruchte Allein-Kompetenz in Sachen Licht und Farben einzuschränken, einen „subjektiven Faktor“ zur Geltung zu bringen. Müller hingegen argumentiert entschieden als Physiker, und zwar als einer aus der modernsten Schule, der endlich die Existenz der sogenannten „dunklen Materie“ voll ernst nimmt und die damit verbundenen Konsequenzen bedenkt.

Die Dunkelheit und Schattenhaftigkeit des Weltalls spielen ja längst eine dominierende Rolle in der physikalischen Forschung; es gibt kaum noch Spuren der einst so ausgedehnten Lichtmetaphorik in der Wissenschaftsrhetorik. Licht und Strahlung, für Newton faktisch noch Benennungen für ein und dasselbe, werden heute strikt voneinander getrennt. Licht ist nichts weiter mehr als einer der unendlich vielen korpuskularen Photonenströme, die es gibt, Farben sind (laut deutscher Industrienorm DIN) nichts weiter als „Teil eines Gesichtsfeldes eines Auges, das sich bei identischer Struktur von einem andern Teil unterscheidet“.

Goethe nun, so Olaf Müller, sei der erste Forscher gewesen, der die Sinnlosigkeit eines extra herausgehobenen „objektiven“ Lichtes klar durchschaut habe. Die Newtonschen Experimente, das „weiße“ Licht mittels Prismadurchlauf in ein Farbenspektrum zu zerlegen, erschienen ihm als reine „Absurdität“, was er dadurch zeigte, daß er in „weißer“, heller Umgebung einen Schatten durch das Prisma fallen ließ. Es entstand ebenfalls ein Farbspektrum, doch nicht wie bei Newton aus Blau, Grün und Rot, sondern aus Gelb, Purpur und Türkis.

Nach Newtons Logik, folgerte Goethe, müßte man sagen, daß es nicht nur Lichtstrahlen gebe, sondern auch „Finsternisstrahlen“, die sich ebenfalls aus Farben zusammensetzen und ein Spektrum bilden. Goethe hielt das, wie gesagt, für absurd; das war es nicht, es war vielmehr die epochale Entdeckung, daß es erstens tatsächlich auch Finsternisstrahlung, also dunkle Materie, gab und daß zweitens die Farben keineswegs bloße Prisma-Durchlauf-Effekte des „weißen“ Lichts, keineswegs bloße Einbildungen unserer Sinne sind, sondern Bestandteile der Schöpfung von Anbeginn an.

Olaf Müller hat recht: Ein Experimentieren mit solchen Ergebnissen adelt den Experimentator in höchstem Maße, auch wenn er „eigentlich“ etwas ganz anderes beweisen wollte. Gute, geniale Experimente, weiß jeder Wissenschaftstheoretiker, sind meistens „unterbestimmt“, haben oft Folgen, von denen sich der Forscher selbst ursprünglich keinen Begriff machen konnte. Das trifft auch für Goethes Farbenlehre, für ihre Kernaussage zu: Unser Farbsinn ist eine Realität sui generis, und die „Trübe“, der Schatten, gehört nicht weniger dazu als das Licht, die Helligkeit.

Inzwischen hat die Forschung Goethe in einem gleichsam höheren Sinne recht gegeben. Die Vorstellung von den „weißen, farblosen Korpuskeln“ löst bei den Teilchenphysikern nur noch Kopfschütteln aus; man spricht bei ihnen viel lieber, wenn man die Eigenschaften der „letzten“ Teilchen kennzeichnen will, von colours, also von Farben. Und die avancierte Quantenphysik lehrt, daß Meßinstrumente die Objektivität von Erkenntnisprozessen eher verdunkeln denn erhellen. Es gibt gar keine simple Objektivität. Was es gibt, sind strahlende Sonnen, ob sie nun hell oder finster sind – und unendlich viele Farben.

„Wär nicht das Auge sonnenhaft, / die Sonne könnt es nie erblicken. / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“ So lauten die einschlägigen Goetheschen Verse. Vom „Licht“ ist da nicht die Rede, weder vom „göttlichen Licht“ noch vom „Licht der Aufklärung“, geschweige denn von „mehr Licht“. Die Parole „mehr Licht“ wirkt heute, nach vielen schlimmen Erfahrungen, eher abstoßend; hier und da spricht man sogar schon von „Lichtverschmutzung“, womit nicht die Verschmutzung des Lichtes selbst, sondern die Verschmutzung anderer Phänomene durch Licht gemeint ist.

Es gibt grelle Überbeleuchtungen in Stadtzentren, auf Märkten und bei sonstigen Groß-Events. Es gibt brutal inszenierte Lichteinbrüche in intimste persönliche Situationen Es gibt Folterlampen, mit denen Häftlingen frontal ins Gesicht geleuchtet wird, um von ihnen Geständnisse zu erpressen. All das ist von Übel. Zum menschlichen Licht gehört notwendig die Dunkelheit, das behagliche Halbdunkel zu Hause und im engeren Freundeskreis der gnädige Schatten über vielen existentiellen Lebenssituationen.

Wahrscheinlich hat Professor Müller seinen Buchtitel ironisch oder zumindest halbironisch gemeint. Auf Johann Wolfgang von Goethe paßt er jedenfalls nicht so recht. Und die Kammerdiener-Erzählung mit dem Nachttopf sollte man erst recht in die informationelle Finsternis rücken, wo sie hingehört.

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