© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Spiegel der deutschen Seele
Tatort: Die beliebte Sonntagabend-Krimiserie verrät mehr über die Deutschen als eine Langzeitstudie
Claas Nordau

Am kommenden Sonntag haben die Nürnberger Ermittler des Tatort einen besonders schweren Fall zu lösen: Ein Universitätsprofessor und Familienvater wird in seinem Auto tot im Wald gefunden. Er hatte sich dort mit seiner Geliebten vergnügt und wurde aus kurzer Distanz erschossen. Was ist wohl geschehen?

Ein eher typischer Fall, mit dem die ARD ihre Zuschauer an diesem Abend grundversorgt. Der Tatort ist für den Senderverbund eine todsichere Sache. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn er hat das Verbrechen im Massenmedium Fernsehen wohnzimmertauglich gemacht. Er funktioniert als Kooperation aller öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten plus dem Österreichischen Rundfunk und dem Schweizer Fernsehen. Ein deutschsprachiges Gemeinschaftsunternehmen, bei dem nichts schiefgehen darf. Auch oder gerade, weil er mit 45 Jahren im besten Alter ist.

Der Tatort ist eine Institution, ein Wirtschafts- und PR-Faktor, ein TV-Klassiker, Ersatz für den sonntägli-chen Kirchgang, gefundenes Fressen für Tweets und Wutwellen, Arbeitsplatz seriöser Medienjournalisten und Debattenobjekt für Medienpsycho-, Theologen, Soziologen und Experten aller Art.

Einschaltquoten im Millionenbereich

Es gibt Vorausankündigungen zum kommenden Tatort, Kritiken, die Elogen gleichen („erstklassig gespielter Fall mit dichter Atmosphäre“), Faktenchecks, bei denen hinterfragt wird, ob bestimmte Szenen so in der Realität stattgefunden haben könnten („Klingt so die Saatkrähe?“), Prominentenbefragungen („Das Wort zum Mord“) und Zuschauerabstimmungen über den besten Tatort (2014 die Episode Nr. 920 „Im Schmerz geboren“). Über die Kommissare wird im Boulevard diskutiert, als ginge es um die Besetzung von Ministerposten. Zuletzt etwa am 24. März, als die Bild titelte „Machen unsere Tatort-Lieblinge Schluß?“ Gemeint war das Münsteraner Duo Axel Prahl und Jan Josef Liefers.

Die Zahlen jedenfalls sprechen für sich: Die Einschaltzahlen – pro Episode, versteht sich – liegen meist im zweistelligen Millionenbereich, die Quoten bei plus minus 25 Prozent. Spitzenreiter war und ist Episode Nr. 83 „Rot–rot–tot“ – aus dem Jahr 1978 mit einem Curd Jürgens (der damals Weltstarstatus hatte) als Serienmörder und fast 27 Millionen Zuschauern, nicht gerechnet die zahlreichen Wiederholungen. Ein Straßenfeger-Wert, den zwar andere Sendeformate der siebziger Jahre auch erreichten, weil es zu dieser Zeit keine Konkurrenz von Privatsendern gab, der aber in der ewigen Hitliste ungeschlagen ist.

Obwohl die Episode als Klassiker gilt, wirkt sie in der Rückschau wie ein naturalistisches Theaterstück, dem all die filmtechnischen Zutaten fehlen, die einen der besseren Tatorte des Jahres 2015 sehenswert machen. Trotz optischer Schauwerte geht das vielen Episoden so. Die meisten sind so flüchtig wie eine Nachrichtenmeldung. Denn eine gute Geschichte will zunächst einmal gründlich recherchiert, als Drehbuch fixiert, durch Redaktionskonferenzen gehievt, produziert und dann in einem Team umgesetzt werden. Das gelingt selten.

Die Kosten liegen bei 1,2 bis zwei Millionen Euro pro Episode. Es heißt, daß der Hamburger „Tatort“ mit Til Schweiger als Nick Tschiller wegen seiner aufwendigen Actionszenen am teuersten sei. Doch die Sender beteuern, daß jede Episode schlußendlich nur 15 Cent des monatlichen Rundfunkbeitrags ausmachen würde. Verglichen mit Blockbusterfilmen, die für den Weltmarkt produziert werden, ist das wenig. Frank Schätzing, Bestsellerautor und Tatort-Fan, stellte resigniert fest, daß seine Themenvorschläge für Tatort-Redaktionen viel zu teuer seien.

Sie sollen Hilfestellung zur Alltagsbewältigung sein

Das ist auch gut so, denn Tatorte sind keine Fabrikate aus der Traumfabrik, sondern Hilfestellung der Alltagsbewältigung – sollten es wenigstens sein. Die Wertschätzung für das Gesamtformat geht so weit, daß ihm letztes Jahr, bisher einmaliger Vorgang, der Grimme-Preis verliehen wurde, weil, so die Begründung, die Reihe „ein Spiegel der bundesrepublikanischen Entwicklungen und Befindlichkeiten, in jeweils klarer individueller Interpretation“ sei.

Lutz Marmor, der aktuelle ARD-Vorsitzende und NDR-Intendant, sagte kürzlich zum allgemeinen Programman-spruch seines Senders, daß es wichtig sei, Maßstäbe wie „Wahrhaftigkeit, Recher-che, Hintergrund, Analyse, Trennung von Berichterstattung und Kommentar hochzuhalten“.

Nüchterne Allgemeinplätze eines Intendanten, der seinen Stolz nicht verhehlen kann, wenn er weiter ausführt, daß sich in den „letzten drei, vier Jahren“ um den Sendeplatz „Tatort“ eine regelrechte Fangemeinde mit expliziter Lagerfeuermentalität gebildet habe. Der „Tatort“ ist im Smartphonezeitalter zu einem Kollektiverlebnis mutiert, das dem Identifikations- und Unterhaltungswert einer Fußballweltmeisterschaft vergleichbar ist. Wer sich am Samstagabend Popcorn-Kino leistet, chillt am Sonntagabend kostensparend im heimischen Wohnzimmer.

Optimale Basis also, um einem Sendeauftrag gerecht zu werden, der weit über das Plansoll der Quoten hinausreicht. Denn diesen Sendeauftrag gibt es. Ganz frei nach Michel Houellebecq ließe sich über den „Tatort“ sagen, daß er nicht unbedingt glaubwürdig sein müsse, aber „Tendenzen der Gegenwart“ zutage fördern solle.

Und da ist das Spektrum der Tatort-Themen endlos. Es sind nicht immer die großen Reizthemen, die da aus der Sicht der ermittelnden Kommissare, die manchmal wie Außenseiter der Gesell-schaft wirken, dargestellt werden. Es sind die Themen, die man jeden Tag in der Zeitung finden kann. Erst in der Summe aller Episoden werden Tendenzen sichtbar. Manchmal auch im Subtext der Geschichte. Ein Beispiel: In Episode Nr. 934, „Freddy tanzt“, geht es am Beispiel eines erschlagenen obdachlosen Pianisten um die Anonymität und Vereinzelung einer in Routinen und der Suche nach privater Glücksfindung erstarrten Gesellschaft – ermittelnder Hauptkommissar Max Ballauf inklusive.

Das Spektrum der „Tatort“-Themen reicht vom Beziehungsdrama (mehrfach wiederholter O-Ton ermittelnder Fernsehkommissare: „95 Prozent aller Gewaltverbrechen passieren im engeren Familien- und Freundeskreis“) bis hin zu Verbrechen mit globalen Hintergründen. Der Ärger über die Immunität ausländischer Diplomaten und bornierte Bürokraten kann (Episode 930, „Deckname Kidon“) – natürlich verpackt in einen Mordfall – dabei ebenso zur Fallstudie geraten wie die sadomasochistischen Vorlieben in bester bürgerlicher Gesellschaft (Episode 904, „Frühstück für immer“). Beschränkten sich die „Tatort“-Macher in der Frühzeit des Formats auf die schnörkellose Schilderung eines einzigen Kriminalfalls, sind in Zeiten organisierter krimineller Parallelwelten komplexere Geschichten hinzugekommen. Ein Trend ist unverkennbar: die wachsende Gewichtung von Bildern gegenüber Texten. Filmsprache statt Dialog.

Nicht immer gab es den oten am Anfang

In den Anfangsjahren fehlte manchmal der oft diskutierte charakteristische Vorspann mit der Musik von Klaus Doldinger (und dem Schlagzeugeinsatz von Udo Lindenberg), der Film hatte nicht immer die heutige Länge von 88 Minuten, es ging nicht immer um einen Mordfall, nicht immer gab es den obligatorischen Toten am Anfang (in Episode Nr. 13, „Der Boß“, geht es um eine Bande, die sich auf Pelzdiebstähle spezialisiert hat, ihr Boß wird am Ende in eine Falle gelockt und von DDR-Grenzposten erschossen). Er hatte mit Formaten wie „Der Kommissar“, „Stahlnetz“, „Das Kriminalmuseum“ und „Derrick“ zu konkurrieren und erschien eher unregelmäßig zehn- bis zwölfmal pro Jahr. Derzeit sind es etwa 35 Episoden jährlich, aber die – teils importierte – Konkurrenz muß der „Tatort“ nicht fürchten.

Auch wenn die Neue Zürcher Zeitung unlängst lamentierte, daß der „Tatort“ allmählich nur noch skurril sei – das stimmt nicht wirklich. Zumindest wenn man skurrile Einzelfälle (Nr. 927, „Weihnachtsgeld“) wohlwollend zu den Ausrutschern der Reihe zählt. Aber daß eine Leiche auftaucht und der Täter gesucht wird, scheint allerdings und irgendwie immer unwichtiger zu werden. Der Gnadenschuß für ein Pferd (Nr. 932, „Die Sonne stirbt wie ein Tier“) machte jedenfalls medial mehr Furore als der erstochene Pferdepfleger.

Tatort: Der Himmel ist ein Platz auf Erden, Sonntag, 12. April, 20.15 Uhr, ARD

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