© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Die giftige Versuchung
Nach der Salzbekämpfung steht ein Feldzug gegen den Zuckerkonsum bevor
Dieter Menke

Jenseits des gelegentlich mit Hochzeiten oder Geburten garnierten royalen Klatsches, der die Leser der Regenbogenpresse erbaut, ist Großbritannien aus kontinentaler Sicht seit langem kein Quell mehr für wahrhaft gute Nachrichten. Fast ungläubig nimmt man daher eine Erfolgsmeldung aus dem ramponierten britischen Gesundheitssystem zur Kenntnis, mit der Kai Kolpatzik, Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband, jetzt aufwartet (Gesundheit und Gesellschaft, 1/15).

Der von Ärzten gegründeten „Consensus Action on Salt and Health“ (Cash) ist es gelungen, unterstützt von Gesundheitsbehörden und Lebensmittelindustrie, ihren 2003 aufgestellten Aktionsplan zur Senkung des Salzkonsums umzusetzen. Supermarktware enthalte heute bis zu 40 Prozent weniger Salz als vor dem Beginn der Aktion. Die durchschnittliche tägliche Salzration des Insulaners ging daher zwischen 2003 und 2011 von 9,5 auf 8,1 Gramm zurück. Parallel dazu sank der Blutdruck in der Bevölkerung um drei (systolisch) beziehungsweise 1, 4 Millimeter (diastolisch) Quecksilbersäule. Deswegen nahm die Zahl der Toten ab, die einem Schlaganfall oder Herzinfarkt zum Opfer fielen – um erstaunliche 40 Prozent. Dabei kostete die Aktion nur fünf Millionen Pfund jährlich, sparte aber alljährlich 1,5 Milliarden Pfund Behandlungskosten ein.

Diese gelungene Kampagne spornte ein breites Bündnis aus Wissenschaft, Industrie und Gesundheitspolitik an, nach dem Salz nun dem Zucker den Kampf anzusagen. Im Januar 2014 begannen 22 Mediziner und Lebensmittelchemiker mit der „Action on Sugar“, die die Verringerung des Zuckerverzehrs von derzeit etwa 80 auf 25 Gramm pro Person und Tag anvisiert. Eine Vorreiterrolle spielen die Briten diesmal jedoch nicht, denn Frankreich führte bereits 2012 eine höhere Steuer auf zuckerhaltige Getränke ein, und Mexiko, das Land mit der höchsten Rate an Adipositas und Diabetes weltweit, beschloß im November 2013 eine Fett-Zucker-Steuer, die nicht nur den Liter Limonade um sechs Cent verteuerte. Kolpatziks Einschätzung zufolge bildet hingegen Deutschland, wo der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 32 Kilogramm oder 90 Gramm täglich liegt, einen weißen Fleck auf der Landkarte der Anti-Zucker-Bewegung.

„Nationale Strategie“ gegen den Krankmacher

Um der aktuellen Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – maximal 50 Gramm oder eine Tafel Schokolade täglich – zu entsprechen, müßten deutsche Verbraucher ihre tägliche Zuckerration um 40 Prozent senken. Würden sie zum Maßhalten nicht bald mit einer konzertierten Aktion nach dem Vorbild der britischen Cash-Gruppe genötigt, liefen die gesundheitlichen Folgen ebenso wie die immensen Kosten ernährungsbedingter Krankheiten (70 Milliarden Euro pro Jahr) endgültig aus dem Ruder.

Ein populärwissenschaftlicher You­tube-Vortrag des kalifornischen Endokrinologen Robert Lustig, des Anti-Zucker-Papstes, informiere jedermann rasch darüber, daß Zucker Gift sei. Niemand könne darum länger ignorieren, was in der medizinischen Forschung als gesichertes Wissen gelte: Zucker ist mitverantwortlich für Fettleibigkeit, Diabetes Typ 2 sowie Karies, und er begünstigt die Risikofaktoren Bluthochdruck, niedrige HDL-Cholesterin- und hohe Triglycerid-Werte, hoher Nüchtern-Blutzucker und hoher Bauchfettanteil. Nach einer Überblicksstudie der Harvard School of Public Health (2013) zeige sich bei Personen, die bis zu zwei Süßgetränke täglich trinken, ein um 26 Prozent erhöhtes Diabetes-Typ-2-Risiko.

Dieser Gefahrenlage sollte, so fordert Kolpatzik, unverzüglich mit einer „nationalen Strategie“ begegnet werden, um den Zuckeranteil in etwa 500.000 Nahrungsmitteln zu minimieren. Da die Industrie sich bisher dafür kaum engagiere, eine Allianz gegen den Zucker ohne die Erzeuger aber nicht aussichtsreich operieren könne, sei eine Politik kleiner Schritte zu empfehlen. Ansätze dazu böte der Vorschlag des Verbandes der Kinderärzte, Werbung für hochkalorische Lebensmittel aus dem Kinderfernsehen zu verbannen. Oder Süßgetränke-Automaten aus Schulen zu entfernen. Die Industrie brauche bei diesem schrittweisen Vorgehen Umsatz­einbußen nicht zu fürchten, da sich die Geschmacksnerven wie beim Salz auch bei Zucker an Produkte mit geringeren Dosierungen gewöhnten.

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