© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

„Die Demokratie ist schon verschwunden“
Droht die EU in einen autoritären Staat umzukippen? Das prophezeit der Historiker David Engels. In seinem Werk „Auf dem Weg ins Imperium“ hat er den Verfall des Römischen Reiches von der Republik zur Autokratie analysiert und erstaunliche Parallelen zur EU entdeckt
Moritz Schwarz

Herr Professor Engels, droht der Untergang der europäischen Demokratien?

Engels: Nun, zumindest offenbart ein systematischer Vergleich der wichtigsten Krisenfaktoren, unter denen Europa zur Zeit leidet, mit den Ereignissen der spätrepublikanischen Mittelmeerwelt des 1. Jahrhunderts vor Christus nahezu erschreckende Ähnlichkeiten.

Die Epoche, in der die Römische Republik verfiel und in einer Autokratie endete.

Engels: Das meine ich.

Welche Krisenfaktoren sind das?

Engels: Diese erstrecken sich nicht nur auf den politischen Bereich – Demokratieverlust, Immobilismus und Technokratie –, sondern ebenso auf zahlreiche andere Lebensfelder. Auch das spätrepublikanische Rom kannte massive Einwanderungsprobleme, Massenarbeitslosigkeit, explodierende Sozialbudgets, Bevölkerungsschwund, Anstieg der Kriminalität, Zerfall der traditionellen Familie, Verdrängung der altererbten Religion durch orientalische Kulte und Esoterik, asymmetrische Kriege, Globalisierung, Materialismus und die Verflechtung von Wirtschaft, Finanz und Politik. Die Tatsache, daß es sich heute wie damals nicht nur um punktuelle Krisenfaktoren handelt, sondern um eine umfassende Identitätskrise, ist es denn auch, die mich vermuten läßt, daß die „Lösung“ dieser immer bedrohlicheren Situation ebenfalls analog zu den Entwicklungen in Rom ausfallen könnte.

Das heißt?

Engels: Die Dauerkrise der Republik führte zunächst in Bürgerkriege und dann in den augusteischen Prinzipat.

„Wir stehen vor einer grundlegenden Neuordnung“

Aber wiederholt sich Geschichte tatsächlich, ist das nicht eine überholte Vorstellung?

Engels: Ich denke nicht. Bereits die ersten großen Historiker der Antike haben betont, das Studium der Vergangenheit habe nur dann Sinn, wenn man annimmt, daß Geschichte zumindest auf struktureller Ebene immer wieder ähnliche Konstellationen hervorbringt. Diese gilt es dann in der Gegenwart wiederzuentdecken, um erfahrungsbasierte Voraussagen über künftige Entwicklungen zu ermöglichen. Freilich ist diese Annahme heutzutage kurioserweise immer stärker umstritten, und zwar zugunsten des Konzepts einer prinzipiell „offenen Geschichte“, in der zu jeder Zeit so ziemlich alles möglich ist. Kurioserweise sage ich, weil eine solche Annahme natürlich einer Selbstaufgabe der Geschichtswissenschaft gleichkommt. Denn wozu noch einen solchen Aufwand mit der Analyse der Vergangenheit betreiben, wenn keinerlei praktischer Nutzen für unsere gegenwärtige Gesellschaft ableitbar ist?

Pardon, aber das klingt eher nach Geschichtsphilosophie als nach Wissenschaft.

Engels: Die bereits weitgehende Abdankung der „Geschichtsphilosophie“ halte ich für einen der bedauerlichsten Fehler in der jüngeren Entwicklung der Geschichtswissenschaft. Denn zum einen muß jede Geisteswissenschaft ohne metaphysische oder ethische Verankerung zu bloß deskriptiver Tätigkeit verkümmern, zum anderen verbirgt sich hinter der Ablehnung der Geschichtsphilosophie nur der Sieg der oben beschriebenen Sichtweise von der „offenen“ Geschichte – die in sich ja auch schon eine geschichtsphilosophische Position ist.

Was meinen Sie?

Engels: Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen, daß die gegenwärtige Historik den Ideenpluralismus durch das Nebeneinander verschiedener geschichtsphilosophischer Ansätze – wie er sich im 19. Jahrhundert als so fruchtbar erwiesen hatte – zugunsten einer Art ideologischen Einparteienherrschaft aufgegeben hat. Die sich nur scheinbar als unphilosophisch und pragmatisch beschreibt, in Wahrheit aber hinter ihrer Ablehnung der Geschichtsphilosophie nur die Ablehnung konkurrierender geschichtsphilosophischer Orientierungen verbirgt.

Das entscheidende Moment Ihrer Prognose ist die „augusteische Wende“, die Sie für die EU vorhersagen.

Engels: Zwar gründet sich meine Prognose nur auf empirische Analogieschlüsse, die allerdings in meinen Augen eine fast erdrückende Wahrscheinlichkeit besitzen. Wie schon in meinem Buch möchte ich scharf trennen zwischen meiner Analyse der Gegenwart und der daraus folgenden Prognose. Im Rom des 1. Jahrhunderts vor Christus verwandelte der Princeps Augustus die Republik in ein Kaiserreich, das sogenannte Prinzipat. Wenn ich nun mit Blick auf die EU von einer „augusteischen Wende“ spreche, dann meine ich damit, daß die inneren Widersprüche unserer Gesellschaft bald durch eine grundlegende Neuordnung aufgelöst werden.

Warum?

Engels: Weil der gegenwärtige Zustand keinen Beteiligten wirklich zufriedenstellt: Das Volk ist zunehmend desillusioniert durch die Umwandlung der Demokratie in eine Oligarchie und die fehlende Besinnung des Staates auf seine kulturellen Wurzeln; die Intellektuellen revoltieren gegen die offensichtliche Scheinheiligkeit der Politischen Korrektheit; die Eliten fühlen sich durch Populismus und Legitimitätsverlust in ihrer Position bedroht; und die Wirtschaft leidet zunehmend unter der mangelnden Impulsgebung und Reaktivität der Politik. Die Kombination dieser Situation mit hoher Arbeitslosigkeit, enormer Staatsschuld, Auslagerung der Industrie, Überalterung der Gesellschaft, explodierenden Sozialkosten und Allmacht unpersönlicher Markt- und Finanzkräfte stellt wahres Dynamit dar.

„Demokratischer Umsturz ins Imperium“

Warum sollte die Lösung in einer augu-steischen Wende bestehen?

Engels: In Rom vermochte es nur der Übergang zum augusteischen Kompromiß, die Lage zu stabilisieren und den Staat zu gesunden. Kompromiß, weil der Prinzipat ja keineswegs als Diktatur empfunden wurde, sondern vielmehr als Notlösung, welche zum einen den Zusammenhalt und die Legitimität der senatorischen Elite wiederherstellte, zum anderen aber in der Person des Princeps – also des Kaisers – eine Instanz schuf, welche als Garant der Interessen der breiten Massen empfunden wurde. Eine ähnliche Lösung scheint mir auch in Europa innerhalb der nächsten Generation alles andere als unwahrscheinlich.

Das heißt also, diese Krise wird nicht darin münden, daß die EU, sondern daß die Demokratie untergeht?

Engels: Genau. Beziehungsweise: Die Demokratie, zumindest in ihrem ursprünglichen Verständnis, ist ohnehin schon seit einiger Zeit aus unserer Gesellschaft verschwunden und existiert nur noch dem Namen nach. Genauso wie damals die Berufung des römischen Staates auf Senat und Volk – Stichwort: „Senatus Populusque Romanus“, kurz SPQR – reine Konvention war. Hatte sich doch nach der großen soziopolitischen Mobilität des 4. und teilweise 3. Jahrhunderts in Rom eine Elite etabliert, welche sich, wie gesagt, zwar dem Namen nach auf das Volk berief und theoretisch Neuzugängen aus dem Volk gegenüber offen war, in der Praxis aber – wie heute – das Volk zur bloßen Akklamationsinstanz degradierte und alle Herrschaft in den Händen einiger weniger Familien konzentriert war. Paradoxerweise wurde daher der Übergang in die Kaiserzeit von Zeitgenossen wie Dionysios von Halikarnassos geradezu als demokratischer Umsturz bewertet. Und in dieser Beziehung muß die Frage erlaubt sein, inwieweit eine ähnliche autoritär-plebiszitäre Reform unserer Gesellschaft nicht auch von der breiten Masse als konkreter Zugewinn an Demokratie betrachtet werden könnte.

Wie soll man sich ein solch autoritäres Europa der Zukunft vorstellen?

Engels: Eine solche konkrete Vorhersage übersteigt natürlich bei weitem die Kompetenzen eines Althistorikers. Doch vermutlich wird eine so gewandelte und zunehmend auf breiter populärer Zustimmung beruhende europäische Regierung mit umfassenden Sondergewalten die Demokratie nicht offiziell abschaffen. Auch Augustus hat sich schließlich nicht als Totengräber der Republik, sondern als ihr Wiederhersteller feiern lassen. Und in gewisser Hinsicht hatte er damit gar nicht so unrecht, da nunmehr nicht nur erneut die alten republikanischen und konservativen Grundwerte der römischen Geschichte zum Tragen kamen, sondern auch dem selbstzerstörerischen Egoismus der römischen Aristokraten erneut Schranken gesetzt und die politischen Energien zum Nutzen des Gesamtstaats kanalisiert wurden. Ein ähnliches Szenario ließe sich auch in einem von wirtschaftlicher Dauerkrise, Massenverarmung und immer heftigeren interethnischen und sozialen Unruhen erschöpften Europa denken und dürfte auch hier kaum als Wendung zum Schlechteren verstanden werden.

Sie stellen fest, daß in Deutschland Ihr Buch von der Linken kritisiert, in Frankreich dagegen von dieser begrüßt werde. Wie ist das zu erklären?

Engels: Frankreich steckt tief in einer grundsätzlichen Sinnkrise, die sich zum einen dadurch äußert, daß man sich angesichts des Aufstiegs außereuropäischer Mächte zunehmend vom selbstzufriedenen Ideal der „Grande Nation“ verabschiedet, zum anderen dadurch, daß man die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht etwa als „Herausforderung“ begreift – der es, wie in Deutschland, in vorauseilendem Gehorsam durch Wettbewerbssteigerung und sozialen Ausverkauf zu begegnen gilt. Die Wirtschaftskrise wird vielmehr zum Anlaß genommen, die ultraliberalen und universalistischen Grundlagen unserer Gesellschaft an sich in Frage zu stellen, und das in allen politischen Lagern. Daher traf meine Kombination traditioneller Kulturkritik mit eher linksorientierter Wirtschaftskritik auch und gerade bei der Linken dort auf ein positives Echo.

Und in Deutschland?

Engels: Bei Ihnen herrschen andere Bedingungen. Aus den allbekannten Gründen sind eine liberalistische Wirtschaftsordnung und eine kosmopolitisch-universalistische politische Grundhaltung die Grundpfeiler der bundesrepublikanischen Identität. Die kulturelle Identität Frankreichs beruht letztlich immer noch auf Geschichte, Sprache und Tradition; die der Bundesrepublik dagegen nur auf ihrer Verfassung, was bei einer versuchten Rückkehr zu traditionelleren Identitätsfaktoren unverzüglich das Totalitarismus-Trauma wachrüttelt. So ist es nicht erstaunlich, daß etwa ihr Deutschlandfunk mein Buch als Symptom für ein „rückwärtsgewandtes Denken“ bezeichnet, während meine Analyse in Frankreich ganz im Gegenteil als geradezu revolutionäre Zukunftsperspektive betrachtet wird. Die Gründe für den Erfolg meines Buchs in Frankreich sind daher geradezu zwangsläufig identisch mit den Gründen der manchmal reservierten Haltung der politisch korrekten Medien in Deutschland. Allerdings darf ich ganz unbescheiden erwähnen, daß mein Buch im September 2014 von der Süddeutschen Zeitung und dem Norddeutschen Rundfunk auf Platz eins der Sachbücher gesetzt wurde; die Rezeption ist daher also auch in Deutschland keineswegs rundweg negativ.

„Den Unwilligen zerrt das Schicksal mit sich“

Könnte diese Krise statt in einem EU-Imperium nicht in eine Rückkehr zu den Nationalstaaten münden?

Engels: Mein Denken in historischen Analogien zwingt mich dazu, den europäischen Einigungsprozeß ebenso wie die Einigung des Mittelmeers unter römischer Herrschaft als morphologische Unausweichlichkeit zu betrachten, die wir nach dem stoischen Grundsatz „Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zerrt es mit sich“ besser akzeptieren und unseren Idealen anpassen sollten, als uns ihr in den Weg zu stellen und von ihr überrollt zu werden. Zum anderen aber denke ich, daß angesichts der gegenwärtigen Weltlage – Allgewalt unpersönlicher Großunternehmen, Weltmachtstellung Chinas, Hegemonie der USA, Bedrohung durch den Islam – die europäische Einigung, wenn sie denn verbunden ist mit einer Rückbesinnung auf die kulturellen Werte des Abendlandes und einer breiten Verankerung im Volkswillen, ein kleineres Übel darstellt als die Rückkehr zu 28 Nationalstaaten, welche, auf sich allein gestellt, wie einst die Länder des Heiligen Römischen Reiches zur leichten Beute auswärtiger Mächte und Interessen werden dürften. Freilich wird die europäische Einigung zu einer teilweisen Verwässerung lokaler Traditionen führen, genau wie einst die Hellenisierung und Romanisierung des Mittelmeers, und ich kann den romantischen Traum von der Rückkehr zum guten alten Nationalstaat durchaus nachempfinden. Doch dürfen wir uns gerade in der gegenwärtigen Gefahr eine solche Nostalgie nicht leisten, und es ist mir immer noch lieber, wenn mein Sohn mit Englisch als künftiger gesamteuropäischer Verkehrssprache aufwächst und weiß, daß das Schicksal unseres Erdteils in Brüssel entschieden wird, als wenn man ihm Chinesisch oder Arabisch als erste Fremdsprache aufzwingt und seine Augen sich gehorsam nach Peking richten würden – oder nach der Wall Street.

Wenn Sie recht haben, was verbirgt sich dann tatsächlich hinter den EU-kritischen Parteien, die normalerweise nur als „Populisten“ und „ressentimentgeladene Modernisierungsverlierer“ interpretiert werden?

Engels: Genau wie im spätrepublikanischen Rom ruft auch unsere Zivilisationskrise Gegner auf den Plan, welche aus den verschiedensten Gründen gegen die etablierte Ordnung opponieren. In Rom waren dies zunächst die Popularen, dann die Caesarianer, welche verschiedene ideologische Strömungen umfaßten. Bei uns heute: die „Indignés“, die Altermondialisten oder Attac vor einem linken Hintergrund und die „populistischen“ Parteien vor einem eher rechten Hintergrund. Oder schließlich die Gruppen all derer, welche aus ethischen Gründen mit Materialismus, Säkularismus, Individualismus und Liberalismus auf Kriegsfuß stehen. All diese als „Modernisierungsverlierer“ zu bezeichnen, ist wohl sogar sachlich korrekt. Dann sollte man aber auch konsequent alle Armen und Schwachen in Europa wie in der Dritten Welt mit diesem herablassenden Attribut belegen. Auch ist mir nicht ersichtlich, wieso „Modernität“, wenn sie mit systematischer wirtschaftlicher und kultureller Verarmung immer größerer Volksmassen verbunden ist, ein positiv belegter Begriff sein soll, so daß mir hier der „Verlierer“ wohl sympathischer als der „Gewinner“ ist. Und daß sich die Situation auch schnell umkehren kann, hat ja nicht nur die Oktoberrevolution 1917 gezeigt, sondern eben auch die caesarische und dann augusteische Wende.




Prof. Dr. David Engels, der Althistoriker an der Universität Brüssel, geboren 1979, gilt als „profunder Kenner der römischen Geschichte“ (Deutschlandfunk). Er veröffentlichte 2013 in Frankreich seinen vieldiskutierten Bestseller „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik“. Bei uns ist dieses „kluge“ Werk (FAZ) im Herbst erschienen. Engels parallelisiert den Untergang der Römischen Republik mit der Krise der EU, in deren Konsequenz er die Demokratie in Europa am Abgrund sieht. Eine neue Epoche bahne sich an, die die EU in ein Imperium – eine populäre Autokratie – überführen werde. „Unsere Eliten werden die Krise nicht meistern“, schreibt Engels in der Welt, „und so stehen wir mit einem Fuß bereits mitten im autoritären Staat.“ Am Montag, den 27. April wird er seine Thesen auch in der Berliner Bibliothek des Konservatismus vortragen.


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