© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

„Wir wollen die Wahrheit“
Polen: Die Bewertung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk spaltet die Nation
Christian Rudolf

Ein sonniger Vormittag auf dem Warschauer Militärfriedhof Powazki. Der frühere Ministerpräsident Jaroslaw Kaczy´nski nimmt stumm den Kranz entgegen, den ihm ein Mitarbeiter reicht. Was in ihm vorgeht, auf den Tag fünf Jahre nach dem Tod seines Zwillingsbruders Lech, ist seiner unbewegten Miene nicht anzusehen.

Nur ein Tick verrät, wie angespannt er ist. Mit der flachen Hand fegt er Staub vom Bänkchen aus schwarzem Marmor, zwei-, dreimal fährt er darüber. Gleich darauf wischt er imaginären Staub von der marmornen Grabplatte, bevor er das Gebinde ablegt. Er nestelt an den Trauerschleifen. Über die Stelle, auf die er das große Grablicht stellt, fährt er ebenfalls säubernd mit der Hand. Dann verharrt er am Fuß der Grabstelle mit gefalteten Händen, bevor er sich bekreuzigt und abwendet.

„Ohne Wahrheit gibt es nur manipulierte Untertanen“

So geht es eine halbe Stunde lang identisch zu beiden Seiten des Denkmals für die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk. Der Chef der oppositionellen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) schreitet inmitten von PiS-Abgeordneten und Hinterbliebenen der Opfer die endlose Reihe der Gräber ab. Auf den Schleifen steht der Name der Partei, es ist eine eigene Veranstaltung der nationalkonservativen PiS.

Die Kränze des Staatsoberhaupts, der Regierung und der Warschauer Stadtverwaltung liegen bereits dort. Der als Nutznießer des Absturzes von der PiS und ihren Anhängern verhaßte Präsident Bronislaw Komorowski war schon am frühen Morgen mit einer Delegation zur zentralen Gedenkfeier auf dem Friedhof.

Zur selben Zeit, zu der im Stadtzentrum vor dem früheren Amtssitz Präsident Lech Kaczy´nskis die Delegation seines Bruders den Appell mit Totengedenken abnahm. Inmitten einer großen Gruppe der nach der Wahrheit suchenden „Truther“ also, die entgegen der offiziellen Version hinter dem angeblichen Unfall ein lange eingefädeltes Attentat des russischen Geheimdienstes und polnischer Helfershelfer vermuten. Während die Abordnung der PiS noch auf dem Friedhof weilte, begann der zentrale Gedenkgottesdienst für die Regierung, weit ab von dort in der neuerbauten „Kirche der Göttlichen Vorsehung“.

Man will sich nicht begegnen. Die politischen Lager sind schroff gespalten. Mehr noch, die Nation ist getrennt wie noch nie, und die Bruchlinie liegt in der Haltung zu der fünf Jahre zurückliegenden Tragödie, „die größte im Nachkriegspolen“, wie sie Kaczy´nski in seiner Rede nachmittags in der historischen Altstadt nannte. „Ohne Wahrheit gibt es keine Freiheit, keine Rechtsstaatlichkeit, auch keine Bürger. Nur manipulierte Untertanen.“

Seine Ansprache trifft den Nerv der Zuhörer. In erster Linie handelt es sich dabei um unzufriedene bürgerliche, katholische und konservative Kreise, deren Kristallisationspunkt der Smolensk-Komplex ist, die hinter den Vertuschungen und Machenschaften rund um die Ermittlungen einen Anschlag auf Polen sehen. Kaczy´nski resümiert: „Im öffentlichen Leben gibt es viele unbeantwortete Fragen. Aber die wichtigste von allen ist die nach Smolensk. Ohne die Wahrheit über Smolensk werden wir niemals einen starken Staat errichten können, der eine Ordnung der Solidarität und Gerechtigkeit garantiert.“

Um diese Wahrheit geht es auch während der Abendmesse in der Kathedrale. Jedoch nicht so, wie die Zehntausenden Demontranten in Warschaus Zentrum das erhofft haben. Die Kirche ist so voll, daß die Menschen auf dem nahen Schloßplatz über eine Großbildleinwand teilnehmen. Erzbischof Kazimierz Nycz hält dieselbe Predigt wie am Vormittag vor den Regierungsvertretern. Den in Smolensk erlittenen Tod der nationalen Elite bettet er ein in die österliche Auferstehungshoffnung. Ja, es sei notwendig, „alle Ursachen und Begleiterscheinungen“ der Ereignisse vom 10. April 2010 aufzuklären, „um nicht in der Spannung ungeklärter Angelegenheiten zu leben. Das macht die Toten nicht wieder lebendig, aber ...“ Draußen hebt ein Brausen an, pflanzt sich in die Kirche fort und ergreift die dicht gedrängt stehenden Gläubigen: „Wir wollen die Wahrheit! Wir wollen die Wahrheit!“

Der abwiegelnde Kardinal muß unterbrechen – und setzt später fort, ohne auf den protestantisch anmutenden Vorfall einzugehen. Angesichts der national-religiösen Erbauungsstunden, die diese Kirche an jedem Zehnten eines Monats sieht (JF 17/13), eine riesige Enttäuschung: „Ganz schwach. Ein typischer Nycz“, tippt ein Mann in sein Handy. „Schöne Osterpredigt, aber für den fünften Jahrestag völlig deplaziert!“ Während eine junge Frau mit den anderen zur Abschlußkundgebung mit Kaczy´nski strömt, sagt sie ganz ruhig und abgeklärt: „Als wir damals im Radio von dem Absturz hörten, wußten mein Mann und ich sofort, daß es ein Anschlag war.“

Foto: Oppositionsführer Jaroslaw Kaczy´nski ehrt die Toten auf dem Militärfriedhof (o.), deren Namen und Porträts im Zug der Protestierer (r.) gegenwärtig sind: Zehntausende fordern Gerechtigkeit