© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Pankraz,
B. Stollberg und die Oasen der Ritualität

Wer letztes Osterfest in die Kirche ging, konnte ihn wieder einmal erleben: den Sieg des Ritus über das Wort, des Rituals über das logische Sprechen. Was die Priester in ihrer Predigt sagen zu müssen glaubten, interessierte niemanden; wem man sich einzig hingab, das war der rituelle Ablauf des übrigen Gottesdienstes, das strenge Ineinander von Gesten, Gesängen und feierlichen Anrufungen.

Zu glauben, daß sich dergleichen heute nur noch in Kirchen oder bei religiösen Umzügen ereigne, führt in die Irre. Die moderne Zeit ist zwar voller Geschwätz, welches via Internet noch in die fernste Hütte dringt, aber offenbar gerade deshalb wächst die Sehnsucht nach allgemein akzeptierten, gleichsam ritualisierten Verhaltensweisen, die nicht nur das Leben des einzelnen sichern und vereinfachen sollen, sondern es zusätzlich noch überhöhen und mit einer zeitlosen, transzendenten Aura versehen.

Manche Soziologen sprechen schon von einer „Ritualisierung des Alltags“. Neue Bücher erscheinen zum Thema, Pankraz nennt nur den Band „Rituale“ von Barbara Stollberg-Rilinger (Campus Verlag, Frankfurt am Main) und das anrührende, wenn auch etwas apologetische Büchlein „Rituale – Oasen im Leben“ des Bremer Theologen Klaus Dirschauer (Donat Verlag, Bremen). Hier wie dort finden sich viele, den Leser oft überraschende Beispiele für die Erhebung an sich recht schlichter Lebenspraktiken in den Rang eines Rituals von fast religiöser Feierlichkeit.

Nur wenige Autoren machen sich über den Vorgang lustig und werten ihn als Beweis für die auch sonst zu beobachtende Säkularisierung und Banalisierung einstmals religiöser, den Gottesdiensten vorbehaltener Verhaltensformen. Die meisten sehen die Sache genau umgekehrt. Sie sprechen, wie Dirschauer, von „Oasen“, die sich durch die fortschreitende Ritualisierung den nach neuer Spiritualität dürstenden Zeitgenossen öffneten. Denn das niveaulose Geschwätz der aktuellen „Diskurse“ habe die Gegenwart immer mehr in eine Wüste der Bedeutungslosigkeit und der fruchtlosen Schlagwortmacherei verwandelt.

Pankraz, an sich unbeirrbar die Überzeugungskraft sprachlicher Plausibilität erhoffend und dem Diskurs durchaus zugeneigt, kann seine Sympathie für die Oasen-Perspektive nicht unterdrücken. „Ritualisierung des Alltags“ à la Stollberg und Dirschauer bedeutet ja keineswegs blinde Formalisierung und Automatisierung tagtäglicher Routinevorgänge, wie sie die digitale Algorithmen-Industrie zur Zeit durchzusetzen versucht, sondern das genaue Gegenteil.

Der Alltag, also das, was sich angeblich „von selbst versteht“, wird durch die Ritualisierung seiner Gewöhnlichkeit entkleidet und gewissermaßen vornehm gemacht, ja geheiligt. Oft mündet er bekanntlich in einen fatalen Kater, zumindest einen Muskelkater, zunehmend auch einen Seelenkater, mit gegenseitigen Vorwürfen etwa oder Selbstvorwürfen. Irgend etwas fehlt in der Tagesbilanz, und dieses Etwas ist eben das Ritual, ein „von oben“ geliefertes Regelwerk aus Gesten und Anrufungen, in dem wir uns ohne logische Deduktionen bergen und mit Sinn erfüllen können.

Kein Hobbykeller, keine Disko und keine sonstige Abendunterhaltung kann uns diesen bergenden Sinn des Rituals ersetzen. Zwar heißt es in vielen Situationen, daß eine banale Handlung sich so gut eingeschliffen habe, daß sie für die Handelnden längst zum „Ritual“ geworden sei, da man sie doch bis in die feinsten Einzelheiten hinein befolge – doch jedes genauere Nachsehen wird stets den Surrogat-Charakter eines solchen „natürlichen Rituals“ zutage bringen. Der inflationäre Wortgebrauch verdeckt die wahre Bedeutung des Wortes.

Auf faktisch sämtlichen Wissensebenen wimmelt es geradezu vor Riten und Ritualen. Es gibt Initiationsriten, Reinigungsriten, Versöhnungsriten, Kampfriten (früher bei den Duellen, heute bei den Mensuren schlagender Studentenverbindungen) etc. Im selben Maße, wie in gewissen Medizinerkreisen das Mißtrauen gegen die pharmazeutische Industrie mit ihren Pillen und Kapseln wächst, wächst auch die Vorliebe für „rituelle“ Behandlungsmethoden. Ärzte verschreiben als Hilfe gegen Schlaflosigkeit, sich einen Ritus anzugewöhnen und beim Zubettgehen immer dieselben Dinge in derselben Reihenfolge zu tun.

Der Ritus aber ist nie und nimmer identisch mit Routine, er hat – etymologisch betrachtet – vielmehr mit Rhythmus zu tun, bedeutete bei den alten Lateinern „Ordnung“ im doppelten Sinne, nämlich erstens das, was für den Menschen das organisch Notwendige und ihn täglich Beschäftigende ist, zweitens das göttliche Gesetz des Seins überhaupt, den ewigen Rhythmus des Lebens, gegen den sich kein Argument ins Feld führen läßt. Ritus vereint Sein und Sollen in unauflösbarer Verschränkung. Kein Wort ist ihm gewachsen, es sei denn, es wird selber zum Rhythmus, zu Musik, Gestik und Anrufung.

Letztlich ist Ritualität nur im religiösen Rahmen zu verwirklichen. Einzig das dezidiert religiöse Ritual verfügt über die Kraft, eine Menschengemeinschaft über alle politischen, sozialen und existentiellen Unterschiede hinweg dauerhaft zusammenzuhalten. Und der wahre Ritus braucht den Tempel, wie auch immer er heißen mag.

Andererseits braucht der Tempel unbedingt den Ritus. Historische Studien in den USA über dortige Kirchengründungen im 19. Jahrhundert haben ergeben, daß die neuen Kirchen um so langlebiger waren, je stärker sie von Ritualen geprägt wurden. Die Prediger hingegen spielten, den gleichen Studien zufolge, eine eher zersetzende, die Kirche spaltende Rolle.

„Der Ritus ist die Mitte, das Herz jeder Kirche“, schreibt Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Buch. Für weltliche Gemeinschaften läßt sich ein solch unverbrüchlicher Zusammenhalt ihrer Meinung nach nicht herstellen, nicht einmal für Völker und Staaten. Übrigens auch nicht für Kirchen, die ihren überkommenen Ritus dauernd den Zeitumständen anpassen und ansonsten alles dem predigenden Wort überlassen wollen.