© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Zeuge versunkener Zeiten und Räume
Nachruf: Der mit 87 Jahren verstorbene Schriftsteller Günter Grass hinterläßt kein rundes Gesamtwerk
Doris Neujahr

Egal, wie man zu ihm stand: Der Gedanke, daß Günter Grass nicht mehr da ist, nicht mehr fernsehgerecht seine Pfeife schmaucht und keinen Protest mehr einlegt gegen den Lauf der Welt und insbesondere gegen die Verstocktheit der Deutschen, der ist gewöhnungsbedürftig. Zwar hörte man lange schon nur noch mit halbem Ohr hin, wenn er sich als zorniger Alter in die Schlagzeilen katapultierte – zuletzt mit der Forderung, man solle die Flüchtlinge in Privatwohnungen zwangseinweisen –, doch als öffentliches Ritual gehörte sein Auftritt einfach dazu, man wird ihn vermissen. Man gönnte Grass sogar die Rolle des engagierten Schriftstellers, die er eitel bis zum Schluß spielte, weil man sie nicht mehr ernst nahm. Um so leichter fiel es, zu akzeptieren, daß dieser Mann, in dessen Vita sich die deutsche Geschichte tief und schmerzhaft eingekerbt hatte, kein glatter Charakter sein konnte.

Nach dem Tod des Ostpreußen Siegfried Lenz im vergangenen Jahr war er einer der letzten Zeugen versunkener Zeiten und Räume, Zeuge des Zweiten Weltkrieges und des deutschen Danzig, wo er 1927 geboren wurde. Es ist sein unzweifelhaftes Verdienst, den realiter ausgelöschten Ort in die Weltliteratur überführt und für alle Zeiten eingeschrieben zu haben. Es spricht für seine künstlerische Meisterschaft, daß heute die polnischen Bewohner ihn ebenfalls als ihren Stadtschreiber empfinden und seine Bücher als Vorlage nehmen, wenn sie sich auf die Suche nach dem alten genius loci machen.

Grass betrat 1959, dem großen Jahr der deutschen Nachkriegsliteratur, die Bühne, mit dem Roman „Die Blechtrommel“. Der in Danzig geborene Gnom Oskar Matzerath, der sich weigert, zu wachsen, und in einer Irrenanstalt in Westdeutschland seine Erinnerungen niederschreibt, ist zum Gleichnis für die Bundesrepublik geworden, und das in einem höheren Maße, als sogar Grass, dem es an Ehrgeiz und Selbstbewußtsein nie mangelte, sich das vorgestellt haben mag. „Die Blechtrommel“ bildete den Auftakt zur „Danziger Trilogie“, die den Ruhm von Grass begründete und den Höhepunkt seines Schaffens darstellt.

Danach begann ein Abstieg, der bis in die Niederungen des Feminismus-Romans „Der Butt“ und des Wiedervereinigungs-Epos „Ein weites Feldes“ führte. Glücklicherweise gab es retardierende Momente wie die Erzählung „Das Treffen in Telgte“, die von einem fiktiven Dichtertreffen am Ende des Dreißigjährigen Krieges berichtet und zugleich eine Parabel auf die Gruppe 47 bietet.

Er verleugnete Teile

seiner Biographie

Grass’ zahlreiche Werke kreisen um die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Bild, das er von ihr entwirft, widerspiegelt aber eher die bundesdeutsche Geistes- als die deutsche Realgeschichte, weshalb der Titel eines Nationalautors, der ihm verschiedentlich angeheftet wurde, übertrieben erscheint. Das Zeug dazu hätte Grass auf jeden Fall gehabt. Er verfügte über eine farbige, sinnliche, anschauliche Sprache, in der Einflüsse der deutschen Barockliteratur und des Jean Paul spürbar sind und die noch seine mißlungenen Werke streckenweise lesenswert macht. Er konnte kraftvolle Charaktere und Szenen darstellen und besaß ein sicheres Gespür für Dramaturgie und Spannungsbögen.

Seinen Erfolg mußte er sich hart erkämpfen. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, die elterliche Wohnung war winzig, gelesen wurde zu Hause nicht, seine Orthographie wimmelte über die Schulzeit hinaus von Fehlern. Als blutjunger Angehöriger der Waffen-SS geriet er in Kriegsgefangenschaft, er sah Kameraden fallen, wurde verwundet. Der Verlust der Heimatstadt traf ihn schwer.

Die Erfahrungen aktivierten seine künstlerische Imagination und politisierten ihn zugleich. Dieser Doppeleffekt wirkte sich auf sein Schaffen verhängnisvoll aus. Der Politiker Grass hat dem Schriftsteller gleichen Namens immer im Wege gestanden, hat ihm Zeit, Kraft und kreative Substanz geraubt. In seiner Wahrnehmung mochte sich das zunächst anders darstellen. Die Wahlkampfeinsätze für die SPD und seine politischen Stellungnahmen befestigten seinen Ruf als führenden Intellektuellen. Spätestens nach dem Tod Heinrich Bölls 1985 genoß er den – für einen Schriftsteller freilich zwiespältigen – Ruf der „moralischen Instanz“.

Grass prägte mit seinen Interventionen den Geist des Kulturbetriebs, der wiederum die Grenzen dessen absteckte, was künstlerisch möglich war. Seine politischen Überzeugungen flossen als moralisierende Tendenz in seine Romane und Erzählungen ein. Gelegentlich klangen Selbstzweifel an. Im „Treffen in Telgte“ brennt zum Schluß das Haus ab, in dem die Dichtertagung stattfindet, und mit ihm die nach hartem Ringen beschlossene Friedensresolution, die den Fürsten zugehen sollte: „So blieb ungesagt, was doch nicht gesagt worden wäre.“ Für seine Person entschied Grass, sich weiterhin lautstark in die Politik einzumischen.

Die Moralisierung der Geschichte, die er betrieb, bedeutete neben der tendenziösen Darstellung auch, daß er Teile seiner Biographie verleugnete, anstatt sie, stellvertretend für seine Generation, der Mitwelt und den Nachgeborenen anschaulich und verständlich zu machen. Erst der Nobelpreis, der ihm 1999 verliehen wurde, gab ihm – in engen Grenzen – die dafür nötige innere Freiheit. 2006 enthüllte er in der Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, der er 1944 beigetreten war. Was heute als unverzeihliches Versagen gilt, stellte sich für ihn als Flucht aus den beengten häuslichen Verhältnissen und darüber hinaus ganz idealistisch dar: Der Bauernkriegsführer Georg von Frundsberg, dessen Namen seine Einheit trug, war „jemand, der für Freiheit, Befreiung stand. Auch ging von der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen zusammengefaßt kämpften freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer, viele Norweger, Dänen, sogar neutrale Schweden an der Ostfront in einer Abwehrschlacht, die, so hieß es, das Abendland vor der bolschewistischen Flut retten werde.“ Was für ein literarischer Stoff, den Grass zeit seines Lebens verschenkt hat!

Warnung vor einem

Mißbrauch der Geschichte

Die 2003 veröffentlichte Novelle „Krebsgang“, die von der „Gustloff“-Katastrophe handelt, beginnt denn auch mit der selbstkritischen Frage: „Warum erst jetzt?“ Grass äußert milden Spott über „die antifaschistische Gebetsmühle“ und die „linkslastige (...) Dauerbelehrung“, um dann deren Topoi zu wiederholen und vor dem „Mißbrauch“ der Geschichte durch alte und neue „Nazis“ zu warnen.

An anderer Stelle durchbricht er wieder das antifaschistische Paradigma und stößt in eine existentielle Dimension vor. So läßt er den Erzähler – in dem man sein Alter ego sehen kann – über den Fotos der jungen „Gustloff“-Kadetten – seiner Altersgefährten – meditieren: „Alle tragen ihre, wie man zugeben kann, kleidsamen Marinemützen mit der umlaufenden Bandaufschrift ‘Kriegsmarine’ schräg, zumeist mit leichter Rechtsneigung. Ich sehe gerundete, schmale, kantige wie pausbäckige Gesichter von Todesanwärtern. Die Uniform ist ihr ganzer Stolz. Ernst blicken sie mich an, als bestimme Vorahnung ihren zuletzt fotografierten Ausdruck.“ Es sind die gütigsten, weisesten und traurigsten Sätze, die in den letzten Jahrzehnten über die gefallenen deutschen Soldaten verfaßt worden sind.

Spätestens an dieser Stelle muß Grass gefühlt haben, wieviel Versäumtes und Mißlungenes es in seinem Werk gibt und es bereut haben. Sein Schaffen ergibt kein rundes Gesamtkunstwerk, sondern ein gewaltiges, in Teilen bestaunenswertes Fragment. Für neue Autoren könnte das eine Herausforderung sein.

Foto: Günter Grass: Dieser Mann, in dessen Vita sich die deutsche Geschichte tief eingekerbt hatte, konnte kein glatter Charakter sein