© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Des Widerspenstigen Entlassung
Das ausgeschlagene Erbe: Wie die Auseinandersetzungen um das Volkstheater Rostock und seinen geschaßten Intendanten zeigen, droht der Theaterlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns die kulturelle Versteppung / Kritik an SPD-Kulturminister Brodkorb
Thorsten Hinz

Der Streit am Rostocker Volkstheater hat eine unerwartete Wendung genommen. Das Stadtparlament, die Bürgerschaft, hat am Montag dieser Woche den Rauswurf des Intendanten Sewan Latchinian suspendiert, dem nach nur halbjähriger Amtszeit fristlos gekündigt worden war (JF 16/15). Die Mehrheit hat begriffen, daß es um mehr als um eine Personalie, nämlich um die Existenz des Hauses geht, dem bereits der Generalmusikdirektor, der Schauspieldirektor und der künstlerische Geschäftsführer abhanden gekommen sind. Die Kündigung war vor zwei Wochen auf Antrag des Oberbürgermeisters Roland Mehling (parteilos) vom Hauptausschuß der Stadtvertretung beschlossen worden.

Die Konflikte, die hinter der Kündigung stecken, schwelen indes weiter. Latchinian hat erfolgreich gearbeitet und begonnen, den Abstieg, den das Volkstheater seit Jahren erfährt, umzukehren und den Diskussionen um die Dezimierung oder Schließung des Theaters die Grundlage zu entziehen. Und eben das hatten die Stadtväter bei seiner Berufung weder gewollt noch vorausgesehen.

Zu DDR-Zeiten waren am Theater 740 Mitarbeiter tätig. Derzeit sind es noch 270. Die Stadt und das Land Mecklenburg-Vorpommern dringen auf einen weiteren Abbau. Die permanente Unsicherheit belastet die künstlerische Arbeit. In dieser Situation war der markante Glatzkopf Latchinian im Herbst 2014 als der Retter begrüßt worden. Ihm war in der brandenburgischen Provinz das „Wunder von Senftenberg“ gelungen. 70.000 Zuschauer kamen jährlich ins Haus, obwohl Senftenberg nur 27.000 Einwohner zählt. 2005 wurde es zum „Theater des Jahres“ gekürt.

Auch dem Rostocker Volkstheater hauchte er umgehend neues Leben ein: Als Intendant, Regisseur, Schauspieler, Kulturpolitiker. Vehement kämpfte er für seinen vollständigen Erhalt. Er tat das, was man vom Chef eines bedrohten Theaters vernünftigerweise erwartet.

Zwei der vier Sparten

sollen schließen

Für die Kommunal- und Landespolitik, die mit der Zauberformel „Theaterstrukturreform“ in Wirklichkeit Kulturabbau betreibt, wurde er damit zum Störfall. Im Februar beschloß die Bürgerschaft mit 26 zu 21 Stimmen, zwei der vier Sparten – das Tanz- und Musiktheater – zu schließen. Faktisch bedeutet das die Entlassung von 80 weiteren Mitarbeitern. Die entstehende Lücke soll durch die Kooperation mit anderen Theatern des Landes gefüllt werden, die im Bedarfsfall Sänger und Tänzer zur Verfügung stellen. Die euphemistische Bezeichnung dafür lautet „2+2-Modell“ beziehungsweise „funktionales Viersparten-Theater“.

In dem Theaterverbund funktionieren die einzelnen Bühnen als Module, die nach Bedarf miteinander kombiniert werden. Mit diesem Modell will der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Mathias Brodkorb (SPD), eine stabile Theaterstruktur schaffen. Er lockt die Rostocker mit einem 50-Millionen-Zuschuß für einen neuen Theaterbau; andernfalls bleibt das Budget gedeckelt, wird also praktisch Jahr für Jahr gesenkt. Was der Minister für sein Meisterstück hält, ist ein technokratisches, von Unternehmensberatern entwickeltes Ungetüm, das künstlerische Notwendigkeiten negiert.

Zu DDR-Zeiten war das Theater ein Leuchtturm

Die Brodkorb kennen, heben die hohe Intelligenz und analytische Brillanz des 38jährigen hervor. Nur sei er völlig amusisch und in kulturellen Fragen ein Banause. Ihm entgeht, daß Theatertruppen und Orchester keine mobilen Einsatzkräfte sind, die sich nach Belieben hin und her schieben lassen. Sie würden dann mehr Zeit auf Rädern als bei Proben verbringen und sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner – dem des Event- und Unterhaltungszirkus – treffen. Rostock würde zudem mit der Oper seine ertragreichste Sparte verlieren. In der Konsequenz würde auch sein Orchester – die Norddeutsche Philharmonie - in Frage gestellt und zur Fusion mit der Mecklenburgischen Staatskapelle in der Landeshauptstadt Schwerin gezwungen werden. Die Stellenstreichungen, die auch das 1563 als Hofkapelle gegründete Schweriner Orchester über sich ergehen lassen mußte, sind ein Hinweis darauf, daß dies auch die Absicht der Landesregierung ist.

Mecklenburg-Vorpommern ist ein dünnbesiedeltes Flächenland, die Einwohnerzahl ist von knapp zwei Millionen im Jahr 1989 auf aktuell 1,6 Millionen gesunken. Die wirtschaftliche Grundlage – Werften und Häfen – ist weitgehend weggebrochen, dem Auslaufen des Solidarpakts 2020 sieht man mit Schrecken entgegen. Da ist es schwer, die Theaterlandschaft zu erhalten. Doch die Alternative ist eine kulturelle Versteppung. Schließlich macht der Etat für die Bühnen nur 0,46 Prozent des Landeshaushalts aus.

Das Volkstheater war zu DDR-Zeiten ein Leuchtturm, der über die Region hinausstrahlte. 1979 hatte die erste Rockoper der DDR hier ihre vielbeachtete Premiere. Die Rostocker Sprechbühne war nicht schlechter als die Dresdener und besser als die Leipziger, obwohl beide Städte dreimal so groß sind. Zu verdanken war das dem langjährigen Intendanten Hanns Anselm Perten, der politisch auf Linie lag, doch einen Sinn für künstlerische Qualität hatte und Stücke von Arthur Miller, Thornton Wilder, Tennessee Williams oder Edward Albees Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ spielen ließ. Die Dramen von Peter Weiss und Rolf Hochhuth erlebten in Rostock ihre DDR-Premieren.

Die neuen Stadtväter schlugen dieses Erbe nach 1989 aus, anstatt es als Pfund anzunehmen, mit dem sich wuchern ließ. Das aktuelle Kulturangebot in Rostock – eine Stadt mit 200.000 Einwohnern – ist armselig. Zu der Entwicklung trug neben der allgemeinen Desorientierung auch ein drittklassiger Personalimport bei, der die kommunalen Leitungsposten besetzte und ein Finanzdesaster anrichtete. Das Theater wurde nur als Steinbruch betrachtet. In den letzten 25 Jahren hat Rostock zwölf Intendanten verschlissen. Die Hälfte ging unfreiwillig und unter Mitnahme beträchtlicher Abfindungen. Der aktuelle Oberbürgermeister Mehling – ein Mecklenburger Eigengewächs – ist ebenfalls ein Kulturbanause. Er und der Minister ziehen am selben Strang.

Thierse warnte Brodkorb, das Theater kaputtzusparen

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) schrieb in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des SPD-Kulturforums einen Brief an den Parteifreund Brodkorb und warnte ihn davor, das Theater „kaputtzusparen“. Das widerspräche „sozialdemokratischen Grundsätzen“ und beschädige „das Ansehen der Sozialdemokratie“. Die Sanierung von Haushalten dürfe nicht zu Lasten der Kultur gehen. Die Suche nach neuen Konzepten für das Volkstheater Rostock sollte davon geleitet sein, so Thierse, „die Attraktivität für die Stadt und die überregionale Ausstrahlung des Theaters zu stärken, und nicht davon, es weiter zu reduzieren“.

In diesem konkreten Fall darf man bedauern, daß Thierse nur noch ein Mann von gestern ist. Die Kommunal- und Landespolitik jedenfalls warteten unbeeindruckt auf eine Gelegenheit, sich des widerspenstigen Intendanten zu entledigen.

Am 9. März fand in der ehemaligen Residenzstadt Neustrelitz, deren Theater ebenfalls bedroht ist, eine Protestversammlung statt. Latchinian erinnerte bei der Gelegenheit an die Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968 und die Zerstörung von Kulturdenkmälern durch den Islamischen Staat und fügte hinzu: „Und hier bei uns in Mecklenburg-Vorpommern – ich setze das nicht gleich, aber vergleichen dürfen muß man das schon – hat momentan im Namen des Geldes die Zerstörung funktionierender Theaterstrukturen begonnen.“

Im Publikum befand sich der SPD-Politiker Klaus-Michael Körner, ein promovierter Theologe und ehemaliger Studentenpfarrer, der bis 2012 im Landtag für Kulturfragen zuständig war. Er sei „fassungslos“, ließ er Latchinian brieflich wissen, daß „gewählte Repräsentanten unseres demokratischen Rechtsstaates auch nur in irgendeine Beziehung zu Diktatoren, Mördern und fanatischen Kulturzerstörern“ gesetzt würden. Wie wolle er, Latchinian, „(seinem) Oberbürgermeister, den Mitgliedern (seiner) Bürgerschaft und dem Minister“ künftig gegenübertreten?

Oberbürgermeister

war SED-Mitglied

Der wachsame Gottesmann benötigte zehn Tage, um seine Fassung wiederzugewinnen und den obrigkeitsfixierten und bigotten Brief aufzusetzen. Zusätzlich versandte er am 22. März eine Mail an mehrere Politiker, um sie über Latchinians „unzumutbare Ausführungen“ zu informieren. „Da meine Adressensammlung wahrscheinlich unvollständig ist, bitte ich Sie, dies zu entschuldigen und gegebenenfalls Erweiterungen vorzunehmen.“

Hochbeglückt griff Oberbürgermeister Mehling die Mitteilung auf und folgerte, „daß bei Herrn Latchinian nicht die Gewähr dafür besteht, er werde bis zum Ende der Laufzeit des Anstellungsvertrages vorbehaltlos und mit Blick auf das in ihn gesetzte Vertrauen seine Pflichten aus dem Vertrag erfüllen“.

Mit dieser Begründung beantragte er die Absetzung. Das Wort „vorbehaltlos“ heißt: Der Intendant soll bei der Zerstörung seines Hauses aktiv Hand anlegen. Hier stoßen nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern auch gegensätzliche Haltungen aufeinander: Mehling war bis 1989 SED-Mitglied gewesen, während Latchinian in der DDR schon als Schüler politisch aufmüpfig war.

Wie es nun weitergeht, ist offen. Mit der Zustimmung zur Wiedereinsetzung Latchinians würde Mehling der Stadt einen arbeitsrechtlichen Prozeß und eine Abfindung von bis zu 500.000 Euro Abfindung plus Anwaltskosten ersparen. Das Volkstheater wäre sonst ohnehin erledigt. Denn welcher talentierte und mit Selbstachtung ausgestattete Intendant würde sich diese Banausenstadt und ihre kaputtgespielte Bühne dann noch antun?

Auf der Internetseite des Volkstheaters Rostock finden sich weitere Beiträge zur Diskussion um seine Zuiknuft und die Abberufung des Intendanten Sewan Latchinian.

www.volkstheater-rostock.de

Foto: Sewan Latchinian auf einer Pressekonferenz in Rostock (2014): Schon als Schüler zu DDR-Zeiten war er aufmüpfig, später absolvierte er ein Schauspielstudium, 1996 debütierte er als Dramatiker