© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Die frühen Wurzeln des IS-Staates
Die Kalifatsbewegung geht aus den Machtkämpfen gegen die Baath-Partei der sechziger Jahre hervor
Wolfgang Kaufmann

Parallel zum Vordringen des Islamischen Staates wurde immer wieder kolportiert, daß die Terrormiliz in Reaktion auf die Nahostpolitik des Westens entstanden sei. Tatsächlich jedoch haben hier ganz andere Faktoren gewirkt, wie aus einem Buch von Behnam T. Said hervorgeht. Dieser Islamwissenschaftler arbeitet für das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz und hat deutlich mehr zu bieten als andere „Experten“ seiner Branche – man denke da nur an die banalen „Erkenntnisse“ des obersten deutschen Verfassungsschützers Hans-Georg Maaßen vom Oktober 2014: Der typische Salafist zeichne sich nicht zuletzt dadurch aus, daß er ein Moslem sei!

Für Said liegen die Wurzeln des Islamischen Staates im Syrien des Jahres 1964. Damals rebellierte die Muslimbruderschaft des Landes gegen das „gottlose“ Regime der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei, die sich am 8. März 1963 an die Macht geputscht hatte. Dieser Aufstand, dessen Schwerpunkt in der mittelsyrischen Stadt Hama lag, schlug zwar fehl, führte aber nachfolgend zur Gründung einer islamistischen Untergrundmiliz, deren Anführer Marwan Hadid war. Die Tanzim al-Talia al-Muqatila li-l-Ikhwan al-Muslimin (Organisation der Kämpfenden Avantgarde der Muslimbrüder) verübte dann einige Terroranschläge, darunter auch auf den Geheimdienstchef von Hama, Muhammad Gharra. Deshalb ließ der syrische Staatschef Hafiz al-Assad, ein Alawit und somit „Abtrünniger vom wahren Islam“, Hadid in Haft nehmen, in der er 1976 an „Atemnot“ starb.

Daraufhin entfachten die Kampfgefährten des Islamisten, der nun zum Märtyrer und Opfer „ungläubiger“ Gewalt stilisiert wurde, einen weiteren Aufstand, in dessen Verlauf sie zunehmend Unterstützung aus dem Irak bekamen, wo seit 1979 der Sunnit Saddam Hussein herrschte. Höhepunkte des Dschihads gegen das Regime in Damaskus waren der Autobombenanschlag auf den Sitz des Inlandsgeheimdienstes im November 1981 und die Besetzung von Hama Anfang Februar 1982. Allerdings gelang es Assad recht schnell, die „Avantgarde der Muslimbrüder“, die nun von Abu Nasr al-Bayanuni und Said Hawwa geleitet wurde, aus Hama hinauszudrängen.

Dem folgte ein Bündnis zwischen der Führungsspitze der Tanzim al-Talia al-Muqatila li-l-Ikhwan al-Muslimin mit Mustafa bin Abd al-Qadir Sitt Mariam Nassar alias Abu Musab al-Suri. Der kam aus dem nordsyrischen Aleppo, wo ebenfalls seit längerem Kämpfe zwischen islamischen Extremisten und den Sicherheitskräften Assads stattfanden, und residierte nun in Jordanien. Von dort aus setzte sich al-Suri wenig später nach Frankreich ab, das er dann wiederum 1987 in Richtung Afghanistan verließ. Am Hindukusch machte der Syrer unter anderem die Bekanntschaft von Osama bin Laden und anderen Größen des Heiligen Krieges gegen die Sowjets und deren Satelliten. Diese Kontakte inspirierten ihn derart, daß er ab etwa 1990 zu einem Vordenker beziehungsweise Architekten des Konzeptes vom globalen Dschihad aufstieg, ohne sich aber zugleich von der al-Qaida vereinnahmen zu lassen.

Mit seinen Ideen beeinflußte der Veteran der Kämpfe um Aleppo, der sich derzeit vermutlich in der Hand von Assads Sohn Baschar befindet, unter anderem auch die Jabhat al-Nusra li-Ahl as Shaam (Unterstützungsfront für das syrische Volk) mit ihrem „Generalverantwortlichen“ Abu Muhammad al-Jaulani sowie die Terrormiliz Ansar al-Islam (Unterstützer des Islam), die bereits seit 2001 existierte und aus der sich dann wiederum Anfang 2004 die Gruppe al-Tauhid wa-l-Jihad (Monotheismus und Heiliger Krieg) von Ahmad Fadil Nazzal al-Khalayila alias Abu Musab al-Zarqawi abspaltete. Und diese war definitiv der Kristallisationskern des Islamischen Staates.

Dabei verwandelte sich die al-Tauhid wa-l-Jihad zunächst in die Qaidat al-Jihad fi Bilad al-Rafidain (Basis des Dschihads im Zweistromland), nachdem al-Zarqawi im Oktober 2004 einen Treueschwur auf Osama bin Laden geleistet hatte. Allerdings fiel der Chef des al-Qaida-Ablegers am 7. Juni 2006 einem US-Luftangriff zum Opfer, woraufhin sein Nachfolger Abu Umar al-Baghdadi die Miliz in al-Daula al-Islamiyya fi l-Iraq (Islamischer Staat im Irak bzw. ISI) umbenannte – und zwar ohne Rücksprache mit der Führung der Jamaat Qaidat al-Jihad (Gruppe der Basis des Dschihads; Selbstbezeichnung der Kern-al-Qaida unter bin Laden). Dann starb auch dieser Dschihadist bei einem Luftschlag der USA, so daß Ibrahim Awwad Ibrahim Aki al-Badri al-Samarrai alias Abu Bakr al-Baghdadi an die Spitze des ISI gelangte, welcher ab April 2013 als al-Daula al-Islamiyya fi l-Iraq wa-l-Sham (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien bzw. ISIS) firmierte, womit der direkte Vorläufer des Islamischen Staates entstand, dessen Proklamation schließlich am 29. Juni 2014 erfolgte.

Heiliger Krieg gegen

Syriens alawitische Führung

Mit der Darstellung dieser Zusammenhänge tritt Said den Nachweis an, daß die Ideologie und Kampfesweise des Islamischen Staates in ganz wesentlichem Maße auf den Ideen von al-Suri basieren, der seine Sozialisation zum Dschihadisten im Kampf gegen das Assad-Regime erfuhr – wobei der Heilige Krieg gegen die alawitische Führung in Damaskus definitiv schon sehr viel länger tobt als seit 2011.

Darüber hinaus informiert der Hamburger Verfassungsschützer noch über die vielfältigen Querelen innerhalb der islamistischen Szene im Irak und Syrien. So gibt es eben nicht nur die mittlerweile allgemein bekannte Frontlinie zwischen der al-Qaida und dem Islamischen Staat, welcher sich von dieser emanzipiert hat, sondern auch Divergenzen zwischen al-Baghdadis Organisation und den Milizen Ahrar al-Sham (Freie Männer Syriens), Jaish al-Islam (Armee des Islam) und al-Jabha al-Islamiyya (Islamische Front). Das wiederum wirft zwei höchst beunruhigende Fragen auf: Wie inkompetent müssen die Geheimdienste der involvierten Staaten sein, daß sie es nicht vermögen, diese internen Machtkämpfe zu nutzen, um dem dschihadistischen Spuk ein Ende zu bereiten? Und was würde den „Ungläubigen“ in Nahost und anderswo eigentlich drohen, wenn all die miteinander verfeindeten islamistischen Terrororganisationen irgendwann doch plötzlich an einem Strang zögen?

Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden. Verlag C.H. Beck, München 2014, broschiert, 223 Seiten, Abbildungen, 14,95 Euro

Foto: Mitglieder der IS-Vorläufer-Organisation Ansar al-Islam basteln Bomben 2011: Dschihad gegen Assad