© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Die Mär vom Fachkräftemangel
Arbeitsmarkt: Wirtschaftslobbyisten fordern jährliche Nettozuwanderung von 200.000 Ausländern
Christian Schreiber

Vor Einführung des Mindestlohnes überschlugen sich die Warnungen: 350.000 Stellen koste die Lohnuntergrenze, sagten die deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrer Frühjahrsprognose 2014. 570.000 Arbeitsplätze sah die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bedroht, das Ifo-Institut nannte 900.000, das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnete mit Beschäftigungsverlusten von 1,6 Millionen. Doch die Arbeitslosigkeit ist heute um 100.000 geringer als vor einem Jahr, die Beschäftigungszahl stieg um 370.000.

Vorige Woche herrschte erneut Experten-Alarm: Deutschland drohe trotz steigender Zuwanderung ein massiver Fachkräftemangel. „Mit einer Nettozuwanderung von lediglich 100.000 pro Jahr würden wir in jedem Fall zunehmende Fachkräfteengpässe erleben und Wachstumseinbußen hinnehmen müssen. Gelingt es hingegen, die Nettozuwanderung dauerhaft um weitere 100.000 zu erhöhen, so nimmt die Wachstumsdynamik in Deutschland langfristig um bis zu 0,4 Prozentpunkte zu“, prognostizierte IW-Experte Axel Plünnecke im Bankenverbandsmagazin Interesse. Wichtig sei, „Zuwanderer auch aus Regionen zu gewinnen, die ein hohes Qualifikationsniveau und ein hohes Bevölkerungswachstum haben, zum Beispiel aus Indien und Indonesien“.

Regionales Überangebot in den meisten Berufsfeldern

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sekundierte: „Wenn sich die bisherigen Trends in der Zukunft fortsetzen, kommt es im Bereich der technischen Berufe, die meist einen Berufsabschluß voraussetzen, bis 2030 zu Fachkräfteengpässen in allen Regionen.“ Im Kleingedruckten widersprach die Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit (BA) aber der pauschalen IW-Panikmache: Gleichzeitig komme es „zu einem flächendeckenden Überangebot an Arbeitskräften im Bereich der kaufmännischen Dienstleistungsberufe, der lehrenden Berufe, der Kaufleute im Warenhandel und der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Berufe“. In Nordrhein-Westfalen werde es „in den meisten Berufsfeldern ein Überangebot an Arbeitskräften geben“. In Bayern und Baden-Württemberg drohe „bei Maschinen und Anlagen steuernden und wartenden Berufen sowie den akademisch geprägten IT- und naturwissenschaftlichen Berufen“ ein Überangebot.

Was von Experten-Warnungen à la IW zu halten ist, illustriert ein Rückblick auf 2009. Damals behauptete IW-Geschäftsführer Hans-Peter Klös, schon 2014 würden 220.000 sogenannte MINT-Fachleute fehlen, also Mathematiker, Naturwissenschaftler, Techniker, und vor allem Ingenieure. Es bestehe daher „erheblicher Handlungsbedarf, um den Technologiestandort Deutschland fit für die Zukunft zu machen“.

Da das Horrorszenario nicht eintraf, wird der Fachkräfteengpaß 15 Jahre verschoben. Nun rechnet das IW zusammen mit dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) ab 2029 mit 84.000 bis 389.000 fehlenden Ingenieuren. „Egal welches Szenario wir zugrunde legen, es gibt immer eine Unterdeckung“, sagte VDI-Präsident Udo Ungeheuer dem Spiegel. „Ohne Zuwanderung wird es nicht gehen.“ IW-Chef Michael Hüther erneuerte deshalb seine Forderung nach einem Zuwanderungsgesetz – obwohl in der EU genug Fachkräfte bereitstehen.

Doch hochqualifizierte Italiener, Polen oder Ungarn fordern in der Regel deutsche Ingenieursgehälter. Billiger sind natürlich Zuwanderer aus „demographiestarken Ländern“. Hüther verlangt deshalb „eine Weiterentwicklung der Arbeitsmigration – insbesondere aus Drittstaaten“. Die Anerkennung von Qualifikationen und die Einbürgerung seien „wichtige Integrationsmaßnahmen“. Durch ein Zuwanderungsgesetz sollte „Flüchtlingen der Arbeitsmarktzugang durch einen Wechsel des Aufenthaltstitels (‘Spurwechsel’) erleichtert werden“. Und da Deutschkenntnisse in Afrika und Asien rar sind, verlangt Hüther „mindestens Zweisprachigkeit in den zuständigen Behörden“.

Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), wirkt hingegen wie der personifizierte Alptraum der Einwanderungslobbyisten. Den Fachkräftemangel bezeichnet er als „Fata Morgana“. Für ein „knappes Arbeitskräfteangebot – abgesehen vielleicht von den Ärzten und einigen wenigen Fertigungsberufen – lassen sich keine Belege finden“, so Brenke. Auch bei den akademischen MINT-Berufen sei „angesichts des Anstiegs der Studentenzahlen in den kommenden Jahren nicht damit zu rechnen, daß der Bedarf nicht gedeckt werden kann“. Im Studiengang Maschinenbau/Verfahrenstechnik ist die Zahl der Erstsemester 2014 um ein Fünftel gestiegen.

Alarmismus

mit Hintersinn

Manche befürchten bereits Parallelen zur Juristenschwemme. Anfang der neunziger Jahre schlugen Anwaltsvereine und Richterverbände Alarm: In Deutschland würde ein Mangel an Juristen drohen – nun sind fast 161.000 Anwälte zugelassen, dreimal so viele wie 1990. Die Umsätze eines Juristen seien innerhalb von 15 Jahren um 20 Prozent zurückgegangen, junge Anwälte erhielten Einstiegsgehälter von unter 30.000 Euro, klagt Swen Walentowski, Sprecher des Deutschen Anwaltvereins (DAV).

Dies könnte auch den Ingenieuren drohen. „Die Arbeitgeber machen eine Kampagne, um mehr Leute ins Studium zu locken, damit sie anschließend aus einem Heer gut Ausgebildeter wählen können“, so Gerd Bosbach, Statistikprofessor an der Hochschule Koblenz in der Süddeutschen Zeitung. Auch die vor 15 Jahren massenhaft fehlenden IT-Experten (Stichwort: „Computer-Inder“) waren „blindem Alarmismus“ geschuldet. Brenke hat mittlerweile sinkende Löhne in der IT-Branche registriert: „Das versteht jeder. Wenn etwas billiger wird, dann nicht, weil es so wenig davon gibt.“

Foto: Inder an der TU Chemnitz: „Zuwanderer aus Regionen gewinnen, die ein hohes Qualifikationsniveau und ein hohes Bevölkerungswachstum haben“