© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Über die Schwächen der Menschen lachen
Porträtist der viktorianischen Gesellschaft: Zum 200. Geburtstag des englischen Schriftstellers Anthony Trollope
Heinz-Joachim Müllenbrock

Charles Dickens hatte mehr Genie und Thackeray mehr Brillanz, aber Anthony Trollope (1815–1882) war wohl der englischste unter den großen viktorianischen Romanciers, sofern man darunter die Authentizität der von der zeitgenössischen Gesellschaft gezeichneten Bilder versteht. In seinen Romanen fühlte sich der Leser sofort zu Hause.

Seine Beliebtheit als Schilderer der viktorianischen Gesellschaft erarbeitete sich Trollope gewissermaßen nebenberuflich, denn die meiste Zeit während seiner literarischen Betätigung versah er seinen Dienst als hoher Postbeamter. In seiner Autobiographie hat er, was seinem Nachruhm eher schädlich war, berichtet, wie er gewissenhaft nach der Uhr schrieb und ein Pensum von 250 Wörtern pro Viertelstunde zu erfüllen hatte; auf Inspiration konnte er also nicht warten.

Kritik am kirchlichen

Pfründenwesen

Den Ruhm des literarischen Akkordarbeiters Trollope begründeten die nach der fiktiven Grafschaft benannten Barsetshire Novels, in denen er mit sicherem Pinsel ein originalgetreues Gemälde einer typischen Kathedralstadt und ihres Umkreises entwirft. Der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne hat von ihnen gesagt, daß sie „as English as a beef-steak“ seien. Trollopes von dem anschauungsbildenden Reichtum der Romanliteratur profitierendes Gesellschaftsbild übertrifft historisch-soziologische Abhandlungen an Wirklichkeitstreue und Informationsdichte bei weitem. An der sozialen Realität Englands interessierten den Romancier Trollope vor allem die moralisch-psychologischen Auswirkungen eines fein abgestuften Klassensystems.

Der erste und bis heute besonders beliebte Roman der Reihe, „The Warden“ (1855), weist einen bei Trollope sonst kaum spürbaren reformerisch-zeitkritischen Einschlag auf – ein Weltverbesserer war Trollope jedoch nie. Der Vorsteher eines Altenheims, Mr. Harding, gerät in einen Gewissenskonflikt, weil ihm der Grundbesitz der alten kirchlichen Stiftung wegen der gestiegenen hohen Pachteinnahmen ein ansehnliches Jahresgehalt einträgt, das, wie die Presse hartnäckig moniert, nicht ihm als Verwalter, sondern den Insassen des Altersheims gebühre. Trollope übt hier Kritik am kirchlichen Pfründenwesen, und das Dilemma des feinfühligen, menschenfreundlichen Pfarrers besteht darin, daß er trotz unbestechlicher individueller Moral nicht gegen schuldhaftes Verhalten gefeit ist, das einem fragwürdigen, überlebten System angelastet werden muß.

Seine vollen Konturen gewinnt der Gewissenszwiespalt erst auf der Folie der lebensecht gezeichneten klerikalen Porträtgalerie, aus der Dr. Grantly, der kampfeslustig für die Autorität der Kirche eintretende Archidiakon, herausragt. In Trollopes bekanntestem Roman „Barchester Towers“ (1857) bilden der Bischof Dr. Proudie und seine ihn unter dem Pantoffel haltende Ehefrau ein unvergeßliches Figurenpaar.

Die problematische Macht

der Presse thematisiert

Trollopes nüchterne, unaufdringliche und laute Töne meidende Erzählkunst ist das Medium beachtlicher Realitätsdichte. Der die melodramatische Schwarzweiß-Zeichnung eines Dickens verschmähende Erzähler ist primär ein aufmerksamer und weltkluger Beobachter des Menschen als Gesellschaftswesen. Bezeichnenderweise erfahren wir in den Barsetshire Novels über die spirituelle Dimension der anglikanischen Geistlichkeit so gut wie nichts; deren herausgehobene Vertreter agieren ganz so wie die üblichen Angehörigen der oberen Klassen.

Trollope wollte, daß seine Leser – mit ihm – über die Schwächen der Menschen lachen, dem Verlachen gab er sie nicht preis. Zum Satiriker fühlte er sich nicht berufen, obwohl er, in „The Warden“ köstliche maliziöse Miniaturen von Carlyle als „Dr. Pessimist Anticant“ (Antiheuchelei) und Dickens als „Mr. Popular Sentiment“ (Rührseligkeit) entwerfen konnte.

Die scharf-ironische Zeichnung der selbstherrlich auf dem Olymp thronenden und dem armen Mr. Harding unerbittlich zusetzende Zeitung Jupiter (eine Anspielung auf die als „Thunderer“ gefürchtete Times) bildet eine gewisse Ausnahme. Mit dieser Darstellung in „The Warden“ thematisierte Trollope als vielleicht erster englischer Romancier die problematische Macht der sogar in die Alltagesexistenz des Menschen eingreifenden Presse. Zu welchen Auswüchsen das einmal führen würde, konnte sich selbst ein Trollope wohl noch nicht vorstellen.

Ganz dem öffentlichen Leben zugewandt sind die sechs Palliser Novels, die in die Sphäre der großen Politik führen und ihren Namen von jener mächtigen whiggistischen Adelsfamilie ableiten, deren Haupt der fiktive Herzog von Omnium ist; kein anderer Autor hat das routinemäßige Getriebe der nationalen Politik trotz kleinerer faktischer Ungenauigkeiten so authentisch beschrieben wie Trollope, dessen Romanen an konkretem Informationsreichtum keine politikgeschichtliche Abhandlung das Wasser reichen kann.

Trollope schreibt offene Schlüsselromane über die politische Gegenwart, denn die lediglich mit anderen Namen versehenen Größen der damaligen Zeit treten fast unverhüllt auf. Dabei gewährt er Einblick in die bis in den privaten Bereich hineinspielenden Hintergründe von Regierungsstürzen und Regierungsbildungen. Zum politischen Alltag gehören auch – der englischen Tradition mit ihrer besonderen Bedeutung der Familienbeziehungen entsprechend – ehrgeizige intrigierende Damen wie Lady Glencora Palliser, die Frau Plantagenet Pallisers, des jungen Herzogs von Omnium. Den Einfluß dieser Familie veranschaulicht der Ausspruch, daß ein Herzog von Omnium sogar seinen Hund ins Unterhaus delegieren könnte!

Trollope akzeptiert diese von ihm nicht hinterfragten Gegebenheiten und führt den von Disraeli begründeten politischen Roman fort, ohne an dessen programmatischen Reformismus anzuknüpfen. In „The Prime Minister“ (1876), dessen Titelheld, der junge Herzog von Omnium, als Ideal eines patriotischen Staatsmanns gezeichnet ist, verteidigt Trollope die Vorherrschaft der aristokratischen Whigs (der späteren Liberalen) mit ihrem gesicherten Reichtum, der sie unbestechlicher mache als Berufspolitiker amerikanischen Typs.

In den Barsetshire Novels wie in den Palliser Novels vermittelt Trollope ein ebenso detailgetreues wie bejahendes Bild der mittviktorianischen Gesellschaft, der herrschenden Klassen, die er wie kaum ein anderer Autor kannte. Der Optimismus dieser Romanserien wich erst in dem scharf satirischen Werk „The Way We Live Now“ (1875) einer düsteren Atmosphäre; die in dieser Welt grassierende Korruption mit dem unseriösen Gebaren der Finanzkreise als Hauptzielscheibe kündigte die Abkehr von viktorianischer Solidität an.

Trollope war kein philosophischer Grübler in der Art einer George Eliot und keiner, der das Seeelenleben der Menschen bis in seine tiefsten Schichten auslotete. Indem er aber mit sorgfältiger psychologischer Beobachtungsgabe menschliches Verhalten, ähnlich wie Fielding, in seinen Grundzügen analysierte und sich in kluger Selbstbescheidung auf ihm vertrautes Terrain beschränkte – die Massen kamen kaum in sein Blickfeld –, schuf er einen kompakten sozialen Mikrokosmos, der mit seiner Realiendichte eine Fundgrube für die Sozialgeschichte der englischen Literatur des viktorianischen Zeitalters darstellt.

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der jungen freiheit schrieb er zuletzt über Winston Churchill (JF 5/15).