© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Universalismus gegen Partikularismus
Das Eigene bevorzugen
Lothar Fritze

Was schulden wir anderen Menschen? Was sind unsere Pflichten, wenn andere Hilfe benötigen? Wozu sind wir verpflichtet, wenn sie einfach nur besser leben wollen? Während das Gebot, den Nächsten zu lieben, sowohl im Buddhismus als auch in der jüdischen Ethik verankert ist, hat erst das Christentum die Grenzen dieses Gebots gesprengt und das Liebesgebot auf Feinde ausgedehnt (Mt. 5,44). Das christliche Liebesgebot fordert nicht nur ein aktives Eintreten für den Notlei-denden; es fordert darüber hinaus, jede gruppensolidarische Beschränkung aufzugeben. Denn während das Gebot der Nächstenliebe eine Identifikation mit den Angehörigen der eigenen Familie, der eigenen Nation, der eigenen Kultur und Religion etc. möglich macht und wohl auch insinuiert, begründet die Universalisierung des Liebesgebots in Gestalt des Gebots der Feindesliebe eine Kritik daran, Rechte nur Stammesgenossen einzuräumen oder Solidarität nur innerhalb der Eigengruppe zu üben.

Die mit diesem Gebot in Gang gesetzte Universalisierungsdynamik hat dafür gesorgt, daß partikularistisch orientierte Einstellungen zunehmend unter moralischen Druck geraten und eingeschränkt werden: Wir billigen Gruppenfremden ein Asylrecht zu; wir haben eine Spendenbereitschaft entwickelt, die in Not Geratenen auf der ganzen Welt zugute kommt; wir haben den Nepotismus geächtet. Zu Ende gedacht, fordert der moralische Universalismus, die (berechtigten) Interessen jedes anderen Menschen so zu berücksichtigen, als wären es die eigenen.

Sich in erster Linie um das eigene Wohl, die Verwirklichung der eigenen Interessen zu kümmern, ist nicht nur eine kulturübergreifende Invariante des menschlichen Verhaltens; diese Einstellung ist die entscheidende Triebkraft allen

Fortschritts.

Dieser Prozeß, der auch dem Gemeinschaftsfremden, also letztlich jedem Menschen auf der Erde, die gleichen moralischen Rechte einräumt, ist bis heute nicht abgeschlossen. Man kann es jedoch für fraglich halten, ob er in einer Population von Milliarden Individuen jemals abschließbar ist. Eine Universalisierung in bezug auf die Menschheit als Grundgesamtheit erscheint denkbar hinsichtlich der moralischen Grundrechte, wenn diese primär als Abwehrrechte aufgefaßt werden.

Ist sie aber auch denkbar, wenn Grundrechte soziale Anspruchsrechte umfassen sollen? Ist die Forderung, alle berechtigten Interessen aller Menschen gleichberechtigt zu behandeln, das heißt, der Erfüllung eigener Interessen keinen Vorrang gegenüber der Erfüllung der gleichen Interessen anderer Menschen einzuräumen, rational begründbar? Als leiblich-organische Wesen, die für ihre Reproduktion zu sorgen haben, bevorzugen Menschen sich selbst sowie Familienmitglieder, Verwandte und Freunde, und es ist keineswegs selbstverständlich, daß eine Überwindung dieser Bevorzugungsüblichkeit überhaupt eine menschenmögliche Option darstellt, die zudem noch lebenspraktisch wünschenswert wäre.

Die allermeisten dürften es für eine Selbstverständlichkeit halten, sich zunächst einmal um sich selbst zu kümmern; sie betrachten es als selbstverständlich und fraglos legitim, nicht nur das eigene Leben zu reproduzieren, sondern sich auch um das eigene Fortkommen zu bemühen, darum, den eigenen Lebensstandard zu verbessern, für das Auskommen und die Ausbildung der eigenen Kinder zu sorgen – und zwar unabhängig davon, wie gut es anderen geht und in welchem Maße es ihnen gelingt, dieselben Ziele zu erreichen. Sich in erster Linie um das eigene Wohl, die Verwirklichung der eigenen Interessen zu kümmern, ist aber nicht nur eine kulturübergreifende Invariante des menschlichen Verhaltens; diese Einstellung liegt dem Handeln auf Märkten und jeglichem Wettstreit zugrunde und ist die entscheidende Triebkraft allen Fortschritts.

Die Forderung der universalen und uneingeschränkten Nächstenliebe – aufgefaßt als die Forderung, die Interessen jedes anderen Menschen so zu behandeln, als wären es die eigenen – ist nicht von dieser Welt. Sie ist weder in der antiken jüdischen noch der griechischen Ethik vertreten worden, und sie wird auch nicht in einer Ethik der Menschenrechte akzeptiert. Wenn wir aus einem brennenden Haus entweder nur das eigene Kind oder das des Nachbarn retten können, retten wir unser Kind. Wer dies nicht täte, träfe kaum auf Bewunderung.

Jedenfalls: Auch die Ethik der Menschenrechte hat den logisch denkbaren Prozeß der Universalisierung keineswegs vollendet, sondern bleibt hinter der – freilich von noch keiner Gesellschaft gelebten – christlichen Ethik zurück. Das Liebesgebot Jesu fordert denn auch die Überwindung der menschlichen Natur, und es sollte daher nicht verwundern, wenn Menschen die christliche Forderung für nicht akzeptabel halten und, falls doch, im Normalfalle an ihr scheitern.

Als Vertreter einer Menschenrechtsmoral akzeptieren wir zwar die Idee, daß alle Menschen uns gegenüber dieselben Abwehrrechte haben – wir sie also unter anderem nicht verletzen oder töten dürfen –, wir teilen aber keineswegs die christliche Überzeugung, daß wir gegenüber allen Menschen in grundsätzlich gleicher Weise zur Hilfe verpflichtet sind. Man wird daher sagen müssen, daß unsere eigene moralische Praxis in dieser Hinsicht partikularistisch ist.

Wer dies zugibt, muß auch einräumen, daß in der Ablehnung des moralischen Universalismus ein partiell berechtigtes Anliegen verborgen sein kann. Der Konzentration auf individuelle und gruppenbezogene Eigeninteressen scheint eine anthropologische Disposition zugrunde zu liegen, die sich in ihrer unterbewußten Kraftentfaltung weder durch Aufklärung noch durch moralische Erziehung vollständig neutralisieren läßt – vorausgesetzt, man hielte dies für sinnvoll. Diese bevorzugte Verwirklichung sowohl eigener egoistischer als auch eigener altruistischer Interessen kann sich eben auch in einer Bevorzugung der Mitglieder jener Gruppen niederschlagen, denen wir angehören oder denen wir uns zugehörig fühlen. Die Familie, das Volk und der Staat sind solche Gruppen. Die Mitgliedschaft in ihnen ist selten frei gewählt, bietet aber für viele, ja die allermeisten Halt und Orientierung.

Die mit diesen geschichtlichen und kulturellen Institutionen verbundenen gruppenbezogenen Gefühle können nicht ungestraft, sondern nur um den Preis der Mißachtung fundamentaler menschlicher Bedürfnisse ignoriert werden. Deshalb ist es kein Zufall, daß Menschen im täglichen Leben eine Präferenz für das Eigeninteresse als moralisch zulässig anerkennen: durch die Hinnahme ungleicher Lebensverhältnisse oder mit dem individuellen Recht auf Notwehr oder mit der Privilegierung von Verwandten und Bekannten oder der Solidarisierung mit der Eigengruppe. Nur diese Anerkennung macht ein Leben außerhalb des Schlaraffenlandes überhaupt lebbar.

Das Zusammenleben mit Menschen, denen man sich – etwa aufgrund gemeinsamer Sprache, Abstammung oder Geschichte – zugehörig fühlt, begünstigt zudem die Etablierung stabiler demokratischer Institutionen, innerhalb derer Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen und von der unterlegenen Minderheit mitgetragen werden müssen. Schließlich setzt auch die Akzeptanz des Sozialstaates, der eine Einkommensumverteilung beinhaltet, ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl voraus. Deshalb wird der Sozialstaatsgedanke am ehesten in einem Nationalstaat verwirklicht werden können.

Die Präferenz für das Eigene hat einen biologischen Ursprung. Zwar versteht sie sich allein deshalb – unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet – nicht von selbst. Die Forderung jedoch nach Aufgabe jeder gruppenbezogenen, partikularen Solidarität zugunsten eines Verhaltens, das buchstäblich alle Menschen der Welt gleich behandelte, ist selbst inhuman. Ihr nachzukommen hieße, jedem Menschen diejenigen Rechte zu gewähren, die man für sich selbst und seine Eigengruppe beansprucht; dieser Forderung nachzukommen hieße, jede Bevorzugung ausgewählter Menschen aufzugeben.

Ein unbeschränkter Universalismus bedeutete die Auflösung jeglicher Gruppenloyalitäten. Diese selbstzerstörerische Idee auszuleben, kann moralisch nicht gefordert sein. Auch die Verabsolutierung des Universalismus führte in ihrer praktischen Durchsetzung in einen neuen Totalitarismus.

Jede Gruppenbildung impliziert Ausgrenzungen, und mit jeder Ausgrenzung kann die Entstehung von Feindschaft verbunden sein. Feinde können als bedrohlich empfunden werden – selbst wenn von ihnen keine Bedrohung intendiert ist. Gerade die Berufung auf eine notwendige Abwehr von Bedrohungen ist die Argumentationsfigur par excellence, um eigene Aggressionen zu rechtfertigen.

Wir wissen seit langem, und neuere Forschungen zur Evolution des menschlichen Verhaltens bestätigen dies, daß sich Menschenmengen am besten durch die Identifikation eines Feindes und die Behauptung dirigieren lassen, „die anderen“ würden „uns“ bedrohen (Michael Tomasello). Dies gemahnt, die Gefahr im Auge zu behalten, die in der mißbräuchlichen Ausnutzung anthropologischer Dispositionen liegt. Aus dem Bestehen dieser Gefahr folgt jedoch nicht, daß es in der Macht von Politikern stünde, Gruppendenken generell oder das einer bestimmten Art zu eliminieren. Auch Versuche, die historisch entstandenen Gruppen, in denen Menschen ihr praktisches Leben vollziehen, neu zu konfigurieren, werden sich hinsichtlich dieser Zwecke als untauglich erweisen.

Der Anspruch auf Nothilfe bedeutet nicht, daß jedem Menschen das Recht zuerkannt werden sollte, sich in jedem beliebigen Teil der Erde und in jedem Staat seiner Wahl niederzulassen, um an dem dort geschaffenen Reichtum zu

partizipieren.

Gleichwohl ist es sinnvoll, Gruppendenken unter bestimmten Voraussetzungen zu überwinden. Wir leben auf einem endlichen Planeten und sind mit der Tatsache prinzipiell unaufhebbarer Knappheiten konfrontiert. In einer solchen Welt wären Prinzipien nicht allgemein zustimmungsfähig, die einzelnen Gruppen einen exklusiven Anspruch auf Lebensräume und Ressourcen gewähren, während anderen Gruppen der Zugriff auf die notwendigen natürlichen Voraussetzungen zum Überleben verwehrt ist. Kein einzelner Mensch und keine Gruppe von Menschen stimmte vernünftigerweise einem Grundsatz zu, der es für rechtmäßig erklärte, Menschen, die um ihr nacktes Leben ringen, an der Einwanderung in fruchtbarere oder nicht von Kriegswirren gezeichnete Weltgegenden zu hindern, obwohl ihnen Hilfe zum Überleben nicht gewährt wird.

Das heißt, wer trotz eigener Anstrengungen in seinem Land nicht überleben kann, hat Anspruch darauf, daß ihm entweder überschüssiger Lebensraum samt der zum Überleben erforderlichen natürlichen Ressourcen abgetreten wird oder aber, daß ihm Not überbrückende Hilfsmaßnahmen zuteil werden. Es heißt jedoch nicht, daß jedem Menschen das Recht zuerkannt werden sollte, sich in jedem beliebigen Teil der Erde und in jedem Staat seiner Wahl niederzulassen, um an dem dort geschaffenen Reichtum zu partizipieren.

Wer in Lebensgefahr schwebt, wird sich notfalls auch mit Gewalt nehmen, was er zum puren Überleben braucht. Ihm entgegenzukommen, sofern man kann, ist rational und moralische Pflicht. Insofern ist ein Notrecht gegen unterlassene Hilfeleistung anzuerkennen. Darüber hinausgehende Verpflichtungen lassen sich nicht verbindlich vorschreiben. Ein Recht auf Einwanderung und die Pflicht, Zuwanderung zu dulden, finden hier ihre Grenzen. Diese Grenzen im Detail zu ziehen, ist Sache der Einwanderungsgesellschaft.

Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Letzte Buchveröffentlichung: „Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich“, Olzog, München 2012.

Foto: Aimé Morot, „Der barmherzige Samariter“ (1880): Die aktuelle Frage danach, wer mein Nächster sei