© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Fünf nach zwölf
Woher kommt unser Geburtendefizit und was müßte dagegen getan werden? Acht Thesen für eine Wende
Jürgen Liminski

Vom früheren Bundeskanzler Helmut Kohl wird der süffisant-dümmliche Satz überliefert, er könne nun nicht auch noch dafür sorgen, daß es mehr Kinder in Deutschland gebe. Der Satz könnte auch von Schmidt, Schröder oder Merkel stammen. Jeder dieser Sozial- oder Christdemokraten hätte dazu beitragen können, den demographischen Niedergang wenigstens abzubremsen, vielleicht sogar umzukehren.

Denn erkannt wurde das Problem bereits Ende der siebziger Jahre, Anfang der Achtziger lagen die entsprechenden Daten und Zahlen in Form zweier dicker Bände der Bundestags-Enquetekommission „Demographischer Wandel“ auf dem Tisch. Familien- und Bevölkerungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe für alle Politikfelder, mithin Teil der Richtlinienkompetenz. Man hätte nur noch gesellschaftliche Strategien im Kanzleramt ausarbeiten und umsetzen brauchen, es war noch Zeit zum Gegensteuern.

Für viele Maßnahmen ist es heute zu spät, um die Alterung der Gesellschaft aufzuhalten; einige wurden von Rot-Grün auch zurückgenommen, zum Beispiel der Demographiefaktor in der Rentenversicherung. Aber es ist natürlich nicht zu spät, eine langfristige Wende einzuleiten, damit auch die Gerechtigkeitslücke gegenüber Familien zu füllen und nebenher den Versuch zu unternehmen, das Sozialsystem in Deutschland vor dem Kollaps zu bewahren. Denn in den nächsten zehn Jahren gehen die Babyboomer in Rente und verringert sich die Zahl der Arbeitnehmer – trotz Zuwanderung. Das wird das System nicht aushalten. Es wäre sinnvoll, frühzeitig, also jetzt, eine Wende einzuleiten, indem man

- die Lohnabhängigkeit bei den Sozialabgaben aufhebt und alle Einkommen sozialpflichtig macht, damit die Verteilung von unten nach oben umkehrt und die Sozialkassen nachhaltig füllt;

- die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ernst nimmt und den „generativen Beitrag“ der Eltern mit den finanziellen Beiträgen nicht nur bei der Pflege-, sondern auch bei der Renten- und Krankenversicherung verrechnet;

- das Existenzminimum für Kinder in voller Höhe steuerlich freistellt und entsprechend auch das Kindergeld erhöht;

- die gesellschaftlich relevante, ja unverzichtbare Erziehungsarbeit der Eltern honoriert und das Betreuungsgeld, das eigentlich Erziehungsgeld heißen sollte, auf europäische Standards (300 bis 500 Euro) erhöht;

- die mit Blick in die Zukunft sinnlose Objektförderung auf Subjektförderung umstellt, so wie die Franzosen es machen. Konkret: Weniger in Planstellen, Kitaplätze (die in ein paar Jahren leer stehen werden) und Gebäude investieren und stattdessen den Eltern das Geld in die Hand geben;

- vor allem Sprünge bei der Förderung für das dritte Kind einbaut, sei es beim Kindergeld oder in der steuerlichen Erleichterung, denn angesichts der gerade in Deutschland um sich greifenden gewollten Kinderlosigkeit (hier sind wir Weltmeister) muß man die kinderreichen Familien besonders fördern;

- Prämien für Geburten einführt (siehe Zypern oder Frankreich), auch wenn Linke und Grüne gleich mit Nazi-Vergleichen dagegen protestieren. Man könnte das ja Willkommensprämie nennen, ähnlich wie bei der Wiedervereinigung vor 25 Jahren;

l eine Mütterquote propagiert und Firmen, die bevorzugt Mütter (bei gleicher fachlicher Kompetenz) einstellen, nicht nur mit einem Aufkleber belohnt.

Natürlich würde man mit der einen oder anderen Maßnahme sofort eine Debatte entfachen zwischen den Staatsgläubigen, die Eltern nichts zutrauen und alles unterstellen, und den Eltern, die ihre Erziehungsaufgabe ernst nehmen. Letztere bilden in Deutschland noch die große Mehrheit – nur nicht unter Politikern und Journalisten. Und selbstverständlich müßte man wie bei jedem Gesetz präventiv dafür Sorge tragen, daß Mißbrauch so weit wie möglich ausgeschlossen wird.

Bei all diesen und weiteren Maßnahmen ist eines klar: Mehr Geld heißt nicht zwingend mehr Kinder. Individualismus und Hedonismus haben sich in den Industriegesellschaften soweit in die Persönlichkeitsstrukturen der Menschen verästelt, daß das natürliche Bestreben, in Nachkommen weiterzuleben, von einem Gegenwartsdenken verdrängt wird, das Sinn und Wert vor allem in Freizeit, Spaß oder Unterhaltung sucht. Das ist auch eine Folge des ökonomistischen, um nicht zu sagen kapitalistischen Denkens. Schon Adam Smith argwöhnte in seinem Standardwerk vom Wohlstand der Nationen, der „merkantile Geist erstickt die heroische Gesinnung“. Es ist daher kein Wunder, daß in wohlhabenden Ländern die Geburtenzahlen sinken.

Dennoch sind bevölkerungspolitische Maßnahmen nicht vergebens. Denn empirisch gesichert ist auch, daß weniger Geld und damit ein erhöhtes Risiko der Verarmung den Kinderwunsch „ersticken“ und die Geburtenzahlen weiter fallen lassen. Es kommt letztlich darauf an, den natürlichen Kinderwunsch nicht als Utopie oder als Armutsrisiko erscheinen zu lassen.

Diese Rahmenbedingungen kann die Politik beeinflussen mit einem Bündel von Maßnahmen, die den Eltern die Freiheit ihres Lebensmodells lassen (und nicht wie das Elterngeld nach einem Jahr wirtschaftlich zur Krippe zwingen). Es würde auch dazu beitragen, ein Meinungsklima zu erzeugen, das junge Eltern nicht unter Rechtfertigungsdruck setzt, wenn sie ein Modell wählen, das im politisch-medialen Establishment mißtrauisch bis verächtlich beäugt wird.

Paul Kirchhof sagte es so: „Wer das Glück sucht, findet die Familie.“ Daß diese Suche zwar gegen die meisten Journalisten (70 Prozent von ihnen sind kinderlos), aber nicht gegen die Bevölkerung erwirkt werden muß, ist Teil des lösbaren Problems.