© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Aus dem Fegefeuer ins Paradies
Der Dan Brown des Mittelalters: Eine Würdigung des italienischen Dichters Dante Alighieri und seiner „Göttlichen Komödie“ / Belehrungen über Schuld, Sühne oder ewige Glückseligkeit
Günter Zehm

Florenz im Frühjahr 1265, Hochmittelalter wie aus dem Bilderbuch, Lebenslust und Lebensbejahung pur, die Zeiten der großen Pest und des Massensterbens liegen noch weit in der Zukunft. In der „Casa Dante“, dem Stammhaus eines der reichsten und mächtigsten Clans der Stadt, erblickt ein Junge das Licht der Welt, den eben diese Welt später als „Dante Alighieri“ kennen wird, ein künftiges Genie allererster Güte, welches das Schicksal des Abendlands tief und dauerhaft geprägt hat.

Dante war Täter wie Reflektierer, Politiker wie Philosoph, Herrscher wie ewiger Exilant – das eine wie das andere jeweils stets mit dem äußersten Einsatz seiner gesamten Existenz betreibend, ein Vulkan zwischen lauter vor sich hin quabbelnden Sumpflöchern. Es lag in der Logik der Dinge, daß er sehr schnell nicht nur zum Zentralgestirn der italienischen Literatur aufstieg, sondern diese Literatur und damit letztlich die italienische Sprache im ganzen erst einmal erschuf, sie aus den Fesseln des Lateinischen befreite und aus der Sphäre diffuser Regionaldialekte zu eigenem Glanz und eigener Repräsentanz aufsteigen ließ.

Dabei war an keiner Stelle erhobener Zeigefinger oder sonstige oberlehrerhafte Penetranz um ihn. Wie kaum ein anderer Dichter vor oder nach ihm stellte er, manchmal geradezu naiv, die eigene Person als Liebender und Leidender, als Irrender und Lernender in den Vordergrund seiner Werke, er erzählte immer nur von sich selbst – aber es las sich alles so, als ob nicht der Dichter, sondern der momentane Leser zu sich selber spräche. Es war fast ein Wunder, und dieses Wunder ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Auch moderne Dante-Leser setzen spontan sich selbst an die Stelle des Autors – und sind glücklich dabei.

Dante Alighieri (Computer haben es errechnet) ist jene Figur aus der Weltliteratur, Konfuzius, Shakespeare und Goethe einbegriffen, gegen die am wenigsten polemisiert worden ist. Gleichzeitig aber war und ist er eine der am meisten umstrittenen Figuren der Weltliteratur. Faktisch über jedes Detail seiner Lebensgeschichte und seiner Werke gibt es erbitterten Gelehrtenstreit. Jeder Dante-Forscher fühlt sich persönlich betroffen, und die Sache wird noch dadurch befeuert, daß außer den Mitteilungen Dantes selbst nichts „objektiv“ Verläßliches bekannt ist.

Nichts von ihm läßt sich durch äußere Daten, Ausweise, Behördenprotokolle, persönliche Hinterlassenschaften, exakt verifizieren. In wenigen Tagen wird man den 750. Geburtstag des Dichters feiern, aber einige Gelehrte sagen, er sei schon 1260 zur Welt gekommen, und zwar nicht Anfang Mai, sondern erst Anfang Juni. Die in Florenz den Touristen gezeigte „Casa Dante“ ist nicht identisch mit der ursprünglichen; man weiß nicht einmal, ob diese an der gleichen Stelle wie die heutige gestanden hat.

Ein einziges halbwegs authentisches Dante-Porträt gibt es, das Gemälde von Giotto di Bondone in der Kapelle des Bargello-Palastes in Florenz. Es zeigt einen noch sehr jungen Herrn, angetan aber schon mit den Insignien kommunaler Macht. Dante hat sich offenbar ganz früh schon ins Getümmel der damals in der Stadt tobenden Auseinandersetzungen zwischen Ghibellinen und Guelfen, Kaisertreuen und Papsttreuen, „Weißen“ und „Schwarzen“ gestürzt, wobei den Gelehrten nie ganz klar geworden ist, ob er nun Guelfe oder Ghibelline war.

Von Haus aus stritt er für die papistisch gesinnten „Schwarzen“, doch als diese gesiegt hatten, kam es sofort zu schweren Auseinandersetzungen zwischen ihnen und dem Dichter. Man verurteilte ihn zu hohen Geldstrafen, und als er sich weigerte zu zahlen, erging sogar ein Todesurteil. Dante verließ die Stadt und begab sich in ein lebenslanges Exil. Florenz hingegen begann alsbald (angeblich ohne die Urteile wirklich aufzuheben), den Dichter zu bitten, er möge doch in seine Heimat zurückkehren. Je berühmter er wurde, um so dringlicher wurden die Bitten, am Ende bettelte man geradezu um Rückkehr. Indes, Dante Alighieri blieb Exilant und starb am 14. September 1321 im fernen Ravenna, kurz nachdem er sein Hauptwerk, die gewaltige „Göttliche Komödie“, vollendet hatte.

In Ravenna liegt er auch begraben. Ob es freilich seine wirklichen Gebeine sind, bleibt umstritten, denn florentinische Agenten versuchten im Laufe der Zeiten mehrmals, und zwar angeblich mit ausdrücklicher Billigung des Papstes in Rom, den Sarkophag nächtlicherweile aufzusprengen und die Reliquien zu plündern. Dante hätte darüber nur gelacht. Denn sein tatsächlicher Sarkophag war „La divina commedia“. Sie allein barg nicht nur alle für die Erinnerung an sein eigenes Leben belangvollen Mitteilungen, sondern auch die Verse für das, was über alle Menschen und über das Sein im Ganzen zu wissen belangvoll ist.

Im zehnten Gesang der „Göttlichen Komödie“, Vers 1 ff. lesen wir (in der trefflichen deutschen Übersetzung von August Vezin): „Wie sich der Unbenennbar-Unbenannte: / die erste Kraft, im Liebeswechselwehen, / das ewig beide eint, zum Sohne wandte, / schuf sie die Welt – und ihre Bahnen gehen / die Dinge, geistgedacht und raungekleidet. / so wohlgelenkt, daß wir’s voll Lust ersehen …“

Dergleichen klingt an sich eher nach den alten Klassikern Boethius und Horaz als nach dem Kirchenvater Augustinus und dem christlichen Universalgelehrten Thomas von Aquin. Das Werk, das wir heute „Göttliche Komödie“ nennen, hieß denn auch an seinem Ursprung und nach dem ausdrücklichen Willen seines Schöpfers lediglich „commedia“, also, gemäß dem alten Wortsinne, ein zwar möglichst genaues, jedoch auch etwas augenzwinkerndes, den Geist abkühlendes und die Sinne aufheiterndes Übersetzen der bitterernsten Weltläufe in menschliche Sprache, gewissermaßen eine Entwarnung und Entlastung der Seele.

Die auf Dante Alighieri folgende Generation der frühen Humanisten und Renaissancemeister, der Boccaccio und Petrarca, hat das schon früh erspürt und darüber gejubelt. Boccaccio soll es gewesen sein, dem wir die Wortprägung „Göttliche Komödie“ verdanken. Er meinte es allerdings nicht im Sinne einer Festlegung des Werkes auf göttliche Vorgänge oder Anweisungen, sondern so, wie man viel später, beispielsweise in der Belle Epoque des 19. Jahrhunderts, etwa über den Sänger Caruso sprach. „Göttlicher Caruso!“ – das bedeutete nichts weiter als höchstes Lob für die Kunstfertigkeit des Künstlers.

Die „commedia“ gehört in der Tat zu den gelungensten und wundersamsten Sprachkunstwerken des Abendlandes. Alle übrigen Schöpfungen Dantes spiegeln sich darin ab und werden in überraschender Weise zusammengeführt: der Gedichtband „Reime“, in dem unüberhörbar der okzitanischen Trobadorlyrik gehuldigt wird und wo bereits jener „Dolce Stil Novo“ zu vernehmen ist, der dann die ganze „neue“ italienische Sprache so nachhaltig zu prägen begann; die psychologisch raffinierte „Vita nova“, mit der Verklärung seiner schon aus den Gedichten bekannten unsterblich geliebten Beatrice zu einer Art Erlösergestalt mit christusähnlichen Attributen; schließlich die „Monarchia“, Dantes Staatstheorie, in der so manches von Machiavellis „Fürst“ vorausgenommen wird.

An der „commedia“, seinem letzten, alle seine übrigen Schriften überschattenden Buch, hatte Dante ab 1307 gearbeitet, und er erfuhr die Genugtuung, daß er den Text noch vor Ausbruch der tödlichen Krankheit abschließen und an die professionellen Schönschreiber übergeben konnte. Der Text machte von Anfang an riesige Sensation. Allein schon der Grundgedanke über Inhalt und Handlungsablauf des Werkes übertraf alles bisher Dagewesene.

Man denke: Ein einzelner Mensch, Dante, einzig begleitet teils von dem altrömischen Autor Vergil, teils – für die paradiesischen Gefilde – von seiner geliebten Beatrice, macht sich in aller Gemächlichkeit auf den Weg, um den damals vorgestellten übersinnlichen Kosmos, von der Hölle durchs Fegefeuer in den Himmel, abzuschreiten, die dort anzutreffenden, für die hiesige Welt längst Verstorbenen zu besichtigen und ihren transzendenten „Alltag“ zu schildern! Und das alles in makellosen Hexametern und dazu noch voller dezenter metaphysischer Belehrungen über Schuld, Sühne oder ewige Glückseligkeit!

Es läßt sich vermuten, daß Dante Alighieri eine Art Dan Brown des Mittelalters gewesen ist. Aber er konnte dazu noch dichten wie Horaz und argumentieren wie Immanuel Kant. Jeder Biograph zieht den Hut.