© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Unbedarfte Lebenszwerge
Bildungsbürgertum: Der staatlichen Berliner Kulturpolitik droht die allgemeine Verblödung
Thorsten Hinz

Das Gepolter Claus Peymanns über den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner und den Regierenden Bürgermeister der Stadt, Michael Müller (SPD), hat eine überdurchschnittliche Resonanz gefunden (JF 17/15). Den 51jährigen Renner – einen ehemaligen Musikproduzenten, der unter anderem Rammstein unter seinen Fittichen hatte – als „Lebenszwerg“ und „nettes weißes Hemd“ zu bezeichnen, verrät die Thomas-Bernhard-Schule, die noch immer für einen Sturm im Wasserglas gut ist.

Der scheidende Intendant des Berliner Ensembles höhnte in der Wochenzeitung Die Zeit: „Der Renner ist jung, frisch, ein bisserl dumm, immer nett lächelnd und auf Rhythmus aus (...) der weiß vom Theater nix. Da ist keinerlei Geschichtsbewußtsein, kein Hintergrund.“ Auch der Regierende Müller, der in Personalunion als Berliner Kultursenator amtiert, bekam bei der Gelegenheit sein Fett weg. Die „Freischütz“-Premiere in diesem Jahr, in die er „reingezerrt“ werden mußte, sei der erste Opernbesuch seines Lebens gewesen.

Man kann Peymann, der vor seiner Berliner Zeit das Burgtheater in Wien leitete, als einen notorischen Egomanen und alten Platzhirschen abtun, der seinen bevorstehenden Abschied nicht verwindet. Man kann ihn auf den unaufgelösten Widerspruch zwischen Staatssubvention und linker Revoluzzerattitüde festlegen, den er wie kein anderer verkörpert und der zugleich ein Strukturmerkmal der gesamten Theaterlandschaft ist. Doch damit macht man es sich zu leicht.

Museumsleiter wird

Volksbühnen-Intendant

Peymanns Aufwallung ist berechtigt. Anlaß sind die Planungen für die Berliner Volksbühne. 2017 wird deren Intendant Frank Castorf nach 25 Jahren ebenfalls ausscheiden, auch er nicht ganz freiwillig. Staatssekretär Renner favorisierte als Nachfolger den Direktor der Londoner Tate Modern, Chris Dercon, der mit Theater zwar kaum Erfahrung hat, aber als Kurator kultureller „Events“ einen Namen besitzt. Der 56jährige Dercon leitete unter anderem Museen in Rotterdam und von 2003 bis 2011 das Haus der Kunst in München. Am Freitag voriger Woche nun stellte Berlins Bürgermeister Dercon als neuen Theaterintendanten vor. Wenn man die wenigen Äußerungen richtig deutet, stellt Renner sich die Volksbühne als Knotenpunkt eines internationalisierten Kunstbetriebs mit einer Mischung aus Performance, Tanz, Theater, bildender Kunst und Pop vor. Zur Begründung raunt er bedeutungsschwer, Berlin müsse zum „Labor Europas“ werden.

Peymann fürchtet eine Beliebigkeit und Verflachung der Bühne, und es ist schwer, ihm zu widersprechen. Deswegen sprang er seinem Kollegen Castorf bei, mit dem ihn sonst eine herzliche Abneigung verbindet. Als gewichtigen Teil des Problems hat er auf den jämmerlichen Zuschnitt des politischen Personals in der Hauptstadt hingewiesen, das über keinen kulturellen, intellektuellen, historischen oder Bildungshintergrund verfügt und seine Unbedarftheit für den Ausdruck von Modernität hält.

Renner konterte in einer ersten Stellungnahme, er bedauere, daß Peymann „nur noch bedingt für Änderungen und Neuerungen offen zu sein scheint“. Zwei Wochen später formulierte er dann – ebenfalls in der Zeit – eine ausführliche Antwort, die alle Befürchtungen bestätigt. Das Theater, schreibt er, müsse seinen Relevanznachweis erbringen, indem es Themen setze – „aber nicht, indem man alte Gräben zwischen sogenannten Bildungsbürgern und mit Popkultur sozialisierten Menschen aufmacht“. Er bringt die Verhältnisse – auch die Machtverhältnisse – brutal auf den Punkt: „Es geht nicht mehr darum, daß die eine Kulturform E wie ernsthaft ist und die andere U wie unterhaltend. Beides diskriminiert, denn natürlich macht E-Kultur auch Spaß, genauso wie U-Kultur sehr ernsthaft sein kann.“ Ob ein kulturelles Ereignis als qualitätsvoll oder minderrangig gelte, habe „nicht mehr mit Hoch- und Subkultur zu tun, (...) sondern lediglich mit den individuellen Wahrnehmungsperspektiven der Zuschauer und Zuhörer“.

Zeugnis kultureller

Beschränktheit

Banalitäten und Halbwahrheiten vermischen sich hier zum Zeugnis geistig-kultureller Beschränktheit. Natürlich ist es albern, starre Grenzen zwischen Hoch- und Subkultur zu ziehen, aber wer tut das noch ernsthaft? Keine Bühne, die etwas auf sich hält, verzichtet heute auf Anspielungen an die Popart. Tatsächlich verrät die amerikanische „Simpsons“-Serie mehr über gesellschaftliche Dynamiken und politische Hintergründe als viele deutsche Problemfilme, die noch in jedem Gesichtsausdruck ihre gute Absicht vor sich hertragen. Selbstverständlich kann und soll, wo immer möglich, Hochkultur auch in einem naiven Sinne unterhaltsam sein. Herrlich eine „Aida“-Aufführung in der Berliner Staatsoper, die Achtkläßler vor Vergnügen auf ihren Sitzen auf- und niederhüpfen ließ und einem Mädchen orientalischer Herkunft den Ausruf entlockte: „Mann, war das geil! So viel hab’ ich in meinem ganzen Leben noch nicht geklatscht!“

Doch das kann nur ein Anfang sein. Um die Komplexität von Kunstwerken zu erfassen, sind gewisse Voraussetzungen nötig, die sich mit dem – von Renner mit Ressentiment betrachteten – Bildungsbürgertum verbinden. Ohne sie bleiben die Wahrnehmungsperspektiven eingeengt und letztlich primitiv. Aus der Tatsache, daß das Bildungsbürgertum schwindet – in Berlin ist es längst einflußlos –, die Aufhebung von Hierarchien und von Maßstäben abzuleiten heißt nichts anderes, als die allgemeine Verblödung zum Ziel staatlicher Kulturpolitik zu machen. Das paßt freilich in eine Zeit, in der nicht einmal mehr das Abi-tur ein garantiertes Zertifkat für sichere Schreib- und Lesekenntnisse darstellt.

Nochmals der Staatssekretär: „Das Theater muß Brücken in die Lebenswirklichkeit der Stadt schlagen, um relevant zu sein. Das bedeutet, schnell zu reagieren und im Zweifel sogar die eigene Bühne zu verlassen, so wie es das Maxim Gorki tat, als man vor dem Haus in einer Art Arena mit ‘Fallen’ anläßlich des gewaltsamen Tods von Jonny K. am Alexanderplatz ein Stück über Gewalt unter jungen Männern inszenierte.“

Die Nähe dieses Kunstkonzepts zum „Agitprop“ ist evident. Vielsagend ist der Verweis auf das Vorbild des Maxim-Gorki-Theaters, wo seit 2013 die türkischstämmige Intendantin Shermin Langhoff ihr „Postmigrantisches Theater“ Made in Kreuzberg zelebriert. Es ist ein Lehrtheater nach dem Herzen rot-grüner Sozialarbeiter. Das Tanzstück „Fallen“ (Inszenierung: Sebastian Nübling und Ives Thuwis) zeigte übrigens ein erstaunliches Körperspiel, ließ aber die ethnisch-kulturellen Bezüge der „Gewalt unter jungen Männern“ konsequent unter den Tisch fallen. Nichts da mit Lebenswirklichkeit!

Zurück zu Claus Peymann. Man muß dem bald 78jährigen eine gewisse Tragik konzedieren. Fünfzig Jahre lang hat er sich engagiert, Tabus gebrochen, das Spießertum, den Nationalismus und den Hitler in uns bekämpft – und wozu das alles? Um den jungen, frischen, ein bisserl dummen, immer nett lächelnden Lebenszwergen und weißen Hemden ohne geistigen Hintergrund den Weg zu ebnen. Vielleicht war ja alles ein Mißverständnis und die linkslastige Kulturindustrie nichts anderes als der unwissentliche Kollaborateur des Neoliberalismus? Dieses Thema könnte Peymanns letzte große Inszenierung ergeben!

Foto: Taner Sahintürk in dem Tanzstück „Fallen“ vor dem Berliner Maxim-Gorki Theater: Ethnisch-kulturelle Bezüge der „Gewalt unter jungen Männern“ fallen konsequent unter den Tisch