© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Die leisen Töne waren seine Sache nicht
Filmgeschichte: Zum hundertsten Geburtstag des US-Schauspielers und Regisseurs Orson Welles
Wolfgang Paul

Vermutlich hat er so laut wie jedes Neugeborene geschrieen, als er am 6. Mai 1915 in Kenoshin im US-Bundesstaat Wisconsin zur Welt kam. Obwohl man sich auch vorstellen könnte, daß er besonders laut auf sich aufmerksam machte. Denn schon ein paar Jahre später galt der kleine George Orson Welles als Wunderkind, und diesen Ruf sollte er viele Jahre behalten. Hat er doch eine Menge dafür getan, als Theaterregisseur, als Radiomoderator, Filmregisseur und Schauspieler, und alles in jungen Jahren.

24 Jahre war er alt, als ihn das Hollywood-Studio RKO, das gerade in Finanznöten war, unter Vertrag nahm. Welles hatte sich durch New Yorker Theaterinszenierungen von Shakespeare-Dramen und jenes berühmte Radiostück, mit dem er 1938 nach Zeitungsberichten eine Massenpanik an der amerikanischen Ostküste auslöste, bekannt gemacht. Frei nach dem Science-Fiction-Roman „Der Krieg der Welten“ von H. G. Wells schilderte er die Invasion von Außerirdischen in einer fiktiven, aber realistisch wirkenden Nachrichtensendung.

Für sein Spielfilmdebüt bekam er soviel Freiheit wie kein Regisseur vor und nach ihm in Hollywood. Und nach langer Vorbereitungszeit – zwischendurch wurde bezweifelt, ob Welles überhaupt einen Film zustande brächte – und ebenso langer Drehzeit kam 1941 ein Film in die Kinos, der in die Filmgeschichte eingehen sollte: „Citizen Kane“. Das Porträt des Zeitungszaren Charles Foster Kane ist ein Film noir ohne Mord. Er besitzt alle Merkmale dieser Gattung, nur wird eben kein Verbrechen aufgeklärt, sondern nach der Bedeutung eines Wortes geforscht. „Rosebud“ hat der Zeitungsherausgeber als letztes Wort vor seinem Tod geflüstert. Jetzt ist der Mann, der wichtige Zeugen befragt, kein Kriminalbeamter, sondern der Reporter einer Wochenschau. Und die Geschichte von Aufstieg und Fall in die Einsamkeit seines Märchenschlosses Xanadu wird in Rückblenden erzählt, beginnend mit der Probevorführung einer Wochenschau zu Kanes Beerdigung.

Vorbild war der

Medienmogul Hearst

RKO hatte Welles zwar freie Entscheidungsgewalt gegeben, ihm aber auch ein hochprofessionelles Team zur Seite gestellt: Allen voran Gregg Toland, bis heute einer der besten Kameramänner, zauberte düstere Bilder auf die Leinwand, in denen die Gesichter manchmal im Dunkeln lagen und die eine zuvor unerreichte Tiefenschärfe besaßen. Zudem hatte man noch nie so viele Zim-

merdecken gesehen, die in anderen Filmen den zur Beleuchtung nötigen Scheinwerfern vorbehalten waren und deshalb unsichtbar blieben.

Bernard Herrmann, der mit Hitchcock berühmt werden sollte, komponierte eine unaufdringlich dramatisierende Musik, Robert Wise, der spätere Meisterregisseur, sorgte für einen fließenden Schnitt und eindrucksvolle Überblendungen, und das im Nachspann ungenannte Make-up Department glänzte mit seinen Altersmasken.

Vorbild für die Figur des Charles Foster Kane war der Medienmogul William Randolph Hearst, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den Erfolg des Films zu verhindern suchte – was ihm auch gelang. Schon im Film gibt es Beispiele für Meinungsmanipulationen durch Zeitungen – frühe Formen der „Lügenpresse“, wenn man so will.

Die allgemeine Lesart im Fall Orson Welles geht nun so: „Citizen Kane“ war für ihn Segen und Fluch zugleich. Einerseits hatte er trotz des kommerziellen Mißerfolgs einen Meilenstein der Filmgeschichte geschaffen, der als einer der besten, wenn nicht als der beste amerikanische Film galt und vielen heute noch gilt, andererseits konnte er den künstlerischen Standard dieses Meisterwerkes nie mehr erreichen; bei manchen Filmprojekten scheiterte er bereits in der Vorbereitung.

Es ist zwar richtig, daß der barocke Egozentriker Welles im Hollywood-System nicht akzeptiert wurde, doch unter den Filmen, die er nach „Citizen Kane“ gemacht hat, gibt es einige Meisterwerke. Da ist die gegen seinen Willen umgeschnittene Familienchronik „Der Glanz des Hauses Amberson“ (1942) zu nennen oder der packende Thriller „Im Zeichen des Bösen“ (1958) mit ihm als korrupten Fiesling an der mexikanischen Grenze.

Einer der bedeutendsten

Interpreten Shakespeares

Überhaupt hat sich Welles auch als Figur in seinen Filmen mit Macht inszeniert. Die leisen Töne waren seine Sache nicht, das hat er von Shakespeare gelernt. Dessen Blick auf die Welt, auf das Scheitern der übergroßen Helden, hat sich Welles zu eigen gemacht. Deshalb gilt er – auch mit seinen Adaptionen „Macbeth“ (1948) und „Othello“ (1952) – als einer der bedeutendsten Shakespeare-Interpreten des vergangenen Jahrhunderts. Mit seiner Vorliebe für starkes Theater hat er 1965 eine weithin unterschätzte, höchst originelle Verfilmung des Kafka-Romans „Der Prozeß“ vorgelegt.

Auch auf Welles’ Karriere als Schauspieler wird oft ziemlich herablassend geblickt. Doch neben zahlreichen Auftritten als imposante Nebenfigur in mittelmäßigen bis schlechten Filmen stehen großartige Rollen wie die des Harry Lime in „Der dritte Mann“. Regisseur Carol Reed besetzte seine Graham-Greene-Verfilmung mit dem Team Joseph Cotten und Orson Welles als Tribut an deren gemeinsamen Auftritt in „Citizen Kane“ und trug so mit einem weiteren Film dazu bei, daß der am 10. Oktober 1985 in Hollywood verstorbene George Orson Welles unsterblich geworden ist.