© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Kriminell wie das System
Susanne Muhle über die Entführungen der Stasi aus dem Westen während des Kalten Kriegs
Detlef Kühn

Menschenraub war im geteilten Berlin der fünfziger Jahre ein großes Thema. Die Verfasserin der hier anzuzeigenden Dissertation an der Universität Münster, Susanne Muhle, schätzt die Zahl der nach 1949 aus West-Berlin und Westdeutschland durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in den Osten Entführten auf etwa 400. Nicht berücksichtigt sind dabei die bereits vor Gründung der DDR auch in den Westsektoren Berlins vorgenommenen willkürlichen oder aus politischen Gründen erfolgten Verhaftungen durch sowjetisches Militär, für die keine Zahlenangaben möglich sind.

Muhle untersucht in ihrer sehr ins Detail gehenden Studie anhand fünfzig ausgewählter Einzelfälle die Entführungspraxis des MfS, die angewandten Methoden und die Motive und den sozialen Hintergrund der handelnden Personen. Dabei unterscheidet sie auf der Täterseite zwischen hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS, denen die Planung und Steuerung oblag, und den inoffiziellen Mitarbeitern (IM), denen die oft blutige Drecksarbeit vor Ort überlassen wurde. Es überrascht nicht, daß letztere häufig im kriminellen Milieu Berlins angesiedelt waren.

Interessant ist die Motivlage der Verantwortlichen im MfS. Sie verfolgten durchaus unterschiedliche Ziele. Wichtig war die Bestrafung Abtrünniger, also von „Verrätern“, die sich in den Westen abgesetzt hatten. Genauso wichtig war es, aktive Gegner des Kommunismus zu bekämpfen, die in den Ostbüros der westdeutschen Parteien, im Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen (UfJ) oder in der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) organisiert waren und vielfältig in die DDR hineinwirkten. Manche von ihnen wie etwa der leitende Mitarbeiter des UfJ Walter Linse wurden nach der besonders brutalen Entführung mit Waffengewalt in einem Geheimprozeß abgeurteilt und anschließend in Moskau ermordet.

Erst nach dem Mauerbau gingen Entführungen zurück

Die Kooperation mit den Sowjets ist offenkundig. Wenn auch das MfS in diesem wie in anderen Fällen nie seine illegale Tat öffentlich eingestand, sah es entsprechende Vermutungen im Westen doch nicht ungern. Sie sollten verunsichernd und einschüchternd auf potentielle Gegner wirken. Erst nach dem Bau der Mauer 1961 und der damit verbundenen zeitweisen Stabilisierung der SED-Herrschaft setzte sich in der Pankower Führung die Erkenntnis durch, die mit den Entführungen verbundene schlechte Presse in der westlichen Welt könnte sich wohl doch negativ auf das Streben der DDR nach Anerkennung auswirken.

Die Zahl der Entführungsfälle näherte sich in den Jahren 1963/64 der Null. Eine klare Absage an diese langjährige Praxis ist jedoch nie erfolgt. Manches spricht dafür, daß angesichts der Grenzsperren im geteilten Deutschland Entführungen zu kompliziert geworden waren und im Bedarfsfall einfach gleich durch Mordtaten im Westen ersetzt wurden.

Das gelehrte, doch gut lesbare Buch bietet interessante Einblicke in eine wichtige Phase des Kalten Krieges. Es hätte das Zeug zu einem Standard- und damit auch Nachschlagewerk, wenn nicht ein bedauerlicher Mangel zu beklagen wäre. Es ist der Umgang mit der Nennung von Namen. Bei den Opfern sind Anonymisierungen aus Gründen des Datenschutzes oder zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten unter Umständen noch nachvollziehbar, auch wenn sie Überprüfungen und weitergehende Forschungen sicherlich nicht erleichtern.

Bei den hauptamtlichen Tätern verzichtet die Autorin zu Recht auf Anonymisierungen, nicht jedoch bei den zahlreichen IM. Sie werden grundsätzlich nur mit den Decknamen genannt, die ihnen das MfS beigelegt hat, und in einer speziellen Aufstellung mit fünfzig Namen zusammengefaßt. Entgegen der Angabe der Autorin in der Einleitung wurden sie nicht in das allgemeine Personenverzeichnis mit Seitenangaben eingearbeitet, was wohl dem Verlag anzulasten ist. Das Decknamenverzeichnis ist praktisch wertlos. Eine Ausnahme in dieser Misere bildet der IM-Entführer Kurt Rittwagen, der zwar mit Klar- und Decknamen im Text genannt wird, aber auch nicht im Personenregister aufgeführt ist. Man findet ihn nur, wenn man weiß, daß er den Publizisten Karl Wilhelm Fricke entführt hatte und ihn unter dessen Namen sucht.

Dieser Umgang mit zeitgeschichtlich relevanten Namen ist deshalb so ärgerlich, weil er zu einem Täterschutz für Kommunisten führt. Das war früher schon besser. Die Entführer des UfJ-Mitarbeiters Erwin Neumann mit den Decknamen „Weipert“ und „Sylvia“ sind vom Rezensenten vor 15 Jahren im Deutschland Archiv mit ihren Klarnamen Wolfgang Weidhaas und Erika Scharfschwerdt benannt worden. Die Autorin, die diesen Aufsatz durchaus berücksichtigt, wäre also abgesichert gewesen, zumal die beiden Entführer später in den hauptamtlichen Apparat des MfS übernommen wurden. Der Bundesbeauftragte Roland Jahn sagte kürzlich, wer als Täter handelt, müsse mit klarem Namen genannt werden dürfen (JF 16/15). Recht hat er.

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.

Susanne Muhle: Auftrag: Menschenraub. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, gebunden, 670 Seiten, Abbildungen, 49,99 Euro