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»Erlöst und vernichtet«
Am 8. Mai 1945 ging für Deutschland der Krieg zu Ende. Die pauschale Bezeichnung „Tag der Befreiung“ trifft es dennoch nicht
Thorsten Hinz

Die bis heute präziseste Bewertung des 8. Mai 1945 stammt von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten. Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sagte er, der 8. Mai stelle „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie für jeden von uns“ Deutschen dar. „Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“

Erlöst und vernichtet. Das sind gewaltige und gerade deswegen angemessene Begriffe. Die Deutschen wurden erlöst vom Krieg und von der Furcht, durch Bomben, Granaten oder Kugeln zu sterben. Erlöst wurden sie vom nationalsozialistischen Regime, das seine infernalische Zerstörungskraft je länger, desto konsequenter entfaltete. Selbst diejenigen, die dem Nationalsozialismus 1945 noch immer anhingen, sahen mehrheitlich bald ein, daß er im Begriff gewesen war, Deutschland von jenem Guten, Edlen und Schönen abzuschneiden, das es weltweit einzigartig machte. Die vielzitierte Trias Goethe – Schiller – Bach wollte sich zu keinem Zeitpunkt auf Hitler, Himmler und den Judenhetzer Streicher reimen.

Gleichzeitig waren sie vernichtet, weil sie nun dem Belieben – und das hieß: der Willkür – der Sieger ausgeliefert waren. Konkret bedeutete das Rechtlosigkeit, Plünderung, Vertreibung, den Abmarsch in jahrelange Gefangenschaft und den Verlust jahrhundertealter Siedlungsgebiete. Was vom Territorium übrigblieb, wurde parzelliert und der östliche Teil unter die Befehlsgewalt des Massenmörders Stalin gestellt. Aus historischer Sicht war der Versuch der Deutschen, mit der Konstituierung eines Nationalstaats 1871 eine selbständige politische Existenz zu begründen und darin Sicherheit zu finden, in eine kollektive Katastrophe eingemündet.

Viel ist über deutsche Irrwege, Verhängnisse und Verspätungen geredet und geschrieben worden, oft im Ton der moralisierenden Selbstanklage. Diese ist ein Zeichen moralischer und geistiger Schwäche, die sich der Erkenntnis der politisch-historischen und nationalen Tragik verschließt. Die Tragik findet ihren Ausdruck im Begriff der „Deutschen Frage“: Der deutsche Einheitsstaat war zu groß, um sich in einem stillen Winkel Europas selber zu genügen, denn eben seine schiere Größe machte ihn zum gefährlichen Konkurrenten für die anderen europäischen Mächte. Allerdings war er zu klein, um sich als Weltmacht und so in Europas Mitte als unangreifbar zu etablieren.

Die daraus resultierenden Spannungen trugen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei, der mit einer Niederlage endete, die sich zur politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Tragödie auswuchs. Und zwar auch deswegen, weil die Sieger von Versailles ihren Triumph auszukosten gedachten, obwohl der globale Machtverlust des Alten Kontinents längst eine innereuropäische Kooperation gebot.

Das deklassierte Deutschland, ausgeblutet, militärisch wehrlos, drohte seine politische Existenz zu verlieren. In dieser Situation erschien Hitler als ersehnter Wunderheiler. Doch statt – um mit dem Historiker Ludwig Dehio (1888–1963) zu reden – den versprochenen Heiltrank zu kredenzen, der das politische und moralische Siechtum beendete, verabreichte er ein Narkotikum, das die Operation mit dem Messer vorbereitete.

Die außenpolitische Konsolidierung Deutschlands korrespondierte mit einer totalitären Staats-ideologie, was es den konkurrierenden Staaten schließlich leicht machte, Deutschland als „hostis humani generis“, als „Feind der Menschheit“, zu brandmarken, dem nur die Vernichtung, wenigstens aber die bedingungslose Kapitulation zustand.

Die totale Feindschaft war in ihrem Ursprung eher machtpolitisch als humanitär und ethisch motiviert gewesen. Die Westmächte – allen voran die Amerikaner – faßten Stalin zu einem Zeitpunkt als Bündnispartner ins Auge, als er bereits Millionen Morde zu verantworten hatte, während die Anzahl von Hitlers Opfern sich noch vergleichsweise überschaubar ausnahm.

Mit erschüttertem Unterton offenbarte der Widerständler und langjährige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) die nachträgliche Erkenntnis, daß der Krieg nicht gegen Hitler, sondern gegen Deutschland geführt worden war. Was nichts daran ändert, daß der fatale „Führer“ ein Verbrecher aus eigenem Recht war. Er hatte sich nicht gescheut, Stalins „asiatische Tat“ (Ernst Nolte) zu kopieren und war im Angesicht der Niederlage willens gewesen, Deutschland mit sich in den Abgrund zu reißen.

Die paradoxe Einheit aus Erlösung und Vernichtung kann man nicht auflösen, nur aushalten. Andernfalls wird man zu einer paradoxen Existenz: geistig unzurechnungsfähig, moralisch fragwürdig und politisch leichtgewichtig. Dafür steht beispielhaft die DDR, die den 8. Mai sogleich zum „Tag der Befreiung“ erklärte und damit nur bekundete, daß sie im Innern und nach außen unfrei war. Merkwürdigerweise hat die Bundesrepublik die DDR-Sprachregelung Schritt für Schritt übernommen.

Für das besiegte Deutschland war es eine Frage der Zweckmäßigkeit gewesen, dem Geschichtsnarrativ der Sieger entgegenzukommen. Seine totale Übernahme besitzt hingegen eine gänzlich andere Qualität. Sie führt zur Enthistorisierung, Dämonisierung und Dogmatisierung der Geschichte. Weil Dogmen dem Diskurs der Moderne entgegenstehen, sind zu ihrer Durchsetzung Sanktionen bis hin zu Strafgesetzen nötig, was die paradoxe Folge hat, daß das Befreiungsdogma Deutschland in einen Zustand klammheimlicher Unfreiheit versetzt.

Der Ausweg könnte so einfach sein: Man müßte nur die von Theodor Heuss benannte Paradoxie des 8. Mai erneut begreifen und anerkennen.